Nationaler Bildungsbericht 2012: Lesenlernen und Leseerziehung, Teil 2

Wieso hinken die Leseleistungen österreichischer Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich so weit hinter jenen von Kindern und Jugendlichen aus Finnland, Kanada, Schweden u.a. Ländern her? Liegen die Ursachen in unserem Bildungssystem und wenn ja, was lässt sich dagegen unternehmen.

Antwort darauf versucht der Nationale Bildungsbericht 2012 zu geben, der nun bereits zum zweiten Mal nach 2009 den Zustand des österreichischen Bildungswesens näher unter die Lupe nimmt. Der zweite Band dieses Bildungsberichts reflektiert anhand von zehn Beiträgen österreichischer Bildungswissenschaftler bestimmte Themenkomplexe aus dem österreichischen Schulwesen, wobei auch das Thema „Lesen in der Schule“ vertreten ist.

Zu den schulischen Bedingungen des Lesenlernens heißt es im Nationalen Bildungsbericht:

Aufgabe von Schule ist, allen Schülerinnen und Schülern unter Berücksichtigung ihrer individuellen und sozialen Bedingungen in (mindestens) ausreichendem Umfang Lesekompetenz und Möglichkeiten zum Umgang mit unterschiedlichen Textsorten zu vermitteln. Dies erfordert gegebenenfalls intensive Übungs- und Trainingsmaßnahmen, in jedem Fall aber die Berücksichtigung der individuellen Stärken und Schwächen der einzelnen Schüler/innen. (37)

Buchstaben lernen

Für den Erstleseunterricht spielt die Buchstaben-Laut-Instruktion eine besonders wichtige Rolle. Dabei gibt es bei der systematischen Einführung in der didaktischen Herangehensweise recht deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern. Beim ganzheitlich orientierten Erstleseunterricht, eine Methode die heute selten geworden ist, sollen die Kinder von Anfang an einfache Wörter erlernen, wobei die Buchstaben selbst kaum explizit eingeführt werden. Untersuchungen haben ergeben, dass sich ein expliziter Buchstaben-Laut-Unterricht für das Lesenlernen bei Kindern am besten eignet. Gemischte Unterrichtsmethoden würden hingegen entsprechend länger brauchen, um die gewünschten Lernziele zu erreichen.

Als wichtiger Faktor zeigt sich auch die Geschwindigkeit, mit der Buchstaben eingeführt werden, wobei entscheidend ist, dass weder zu schnell noch zu langsam vorgegangen wird. Gerade im Erstleseunterricht ist es besonders wichtig, der großen Bandbreite bei der Leseleistung zwischen guten und schwachen Kindern gerecht zu werden.

Ein expliziter Buchstaben-Laut-Unterricht hat sich laut Studien für das Lesenlernen bei Kindern am besten eignet.  Foto: Dieter Draxl - Tibs-Bilderdatenbank

 

Für den Erstleseunterricht gibt es eigene Übungen, die dabei helfen können, eine sichere Lauterkennung aufzubauen, wie z.B.

  • Erkennen von Einzellauten in Wörtern
  • Positionsbestimmen von Lauten
  • Auf- und Abbauübungen von Wörtern

Diese Übungen zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit werden in den Schulen unterschiedlich häufig eingesetzt.

Erhöhung der Lesegeschwindigkeit

Während in der 1. Klasse der Volksschule das Buchstaben lernen, also das Erlernen der Buchstaben-Laut-Zuordnung, im Mittelpunkt des Leseunterrichts steht, tritt ab der 2. Hälfte der 2. Klasse und in der 3. Klasse das Trainieren des flüssiges Lesens in den Vordergrund, z.B. durch Echolesen oder abwechselndes lautes Lesen. Wichtig dabei ist, die schwächeren Leserinnen und Leser nicht zu übergehen. Das von Eltern angeleitete Lesen von sehr häufigen Wörtern und Wortteilen hat sich in dieser Hinsicht als sehr zielführend erwiesen. Für das wichtige eigenständige Lesen der Kinder zu Hause wird eine Mindestlesedauer von 15 bis 20 Minuten am Tag empfohlen.

Unterricht im Leseverständnis

Lange Zeit bedeutete „Unterricht im Leseverständnis“ lediglich, gelesene Texte besprechen. Nur selten wurde den Kindern erläutert, welche Möglichkeiten es gibt, um einen Text zu erarbeiten. Obwohl die Wissenschaft bereits seit den frühen 80-iger Jahren aufzeigt, wie guter Leseverständnisunterricht aussehen sollte, sind diese neuen Erkenntnisse nur teilweise im praktischen Unterricht umgesetzt worden.

Zwei Strategien stehen beim Unterricht im Leseverständnis im Vordergrund:

  • Erweiterung des Wortschatzes der Kinder
  • Vermittlung von strukturellen, textbezogenen Verständnisstrategien

Ein Unterricht der speziell das Erweitern des Wortschatzes der Kinder als Ziel verfolgt, kann vor allem das Leseverständnis von schwachen SchülerInnen verbessern, die Probleme mit der Unterrichtssprache Deutsch aufweisen. Eine Strategie, mit der Kinder selbstständig neue Wörter erlernen können, wäre z.B. die Verwendung von Nachschlagwerken. Wichtig ist dabei aber nicht nur zu vermitteln was die Wörter bedeuten, sondern auch wie sie in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden.

Die Erweiterung des Wortschatzes ist vor allem wichtig, um das Leseverständnis von schwachen SchülerInnen verbessern. Foto: Nadine Rinner - Tibs-Bilderdatenbank

 

Da Sinn verstehendes Lesen immer auch strategisches Lesen ist, wird den Schulen seit einigen Jahren geraten, den Kindern bereits in der Grundschule, ab der 2. oder 3. Klasse erste einfache Strategien zu vermitteln. Diese sollen helfen, die wichtigsten Aussagen eines Textes zu erfassen und zu strukturieren.

  • überlegen, wie ein Text weitergehen könnte
  • Hinterfragen des eigenen Verständnisses eines Textes: passt die Aussage mit meinem Wissen zusammen, ergibt die Aussage einen Sinn

Vor allem für Texte, die viele Informationen beinhalten, muss die Strategie des Hinterfragens ausdrücklich angewiesen werden. Ein passendes Mittel dazu wäre z.B. die Zusammenfassung oder die bildliche Darstellung eines Textinhaltes.

Ansatz des reziproken Unterrichts

Dabei sollen den Kindern in Kleingruppen vier Verständnisstrategien vermittelt werden:

  • Vorhersagen über den Fortgang eines Textes
  • Fragen zum Text formulieren
  • Suche nach einer Klärung, wenn etwas unklar ist
  • zusammenfassen von Textabschnitten

Konsequenzen für den Erstleseunterricht

Für schwache Leser hat sich ein lautorientierter Unterricht, der sich strikt am Lesebuch orientiert, als Vorteil erwiesen. Beide Komponenten sind für einen Großteil der Unterschiede in den Leseleistungen zwischen den Schulklassen verantwortlich

Bei geringerer Lautorientierung des Unterrichts spielen auch Aspekte wie die Geschwindigkeit, mit der die Buchstaben erlernt werden, das Ausmaß der Hausübungen sowie das Lesen und Schreiben im Unterricht eine wichtige Rolle. Von ganzheitlich wortorientierten Methoden hingegen ist abzuraten.

Im weiteren Verlauf der Volksschule erhalten flüssiges und rasches Lesen sowie die Vermittlung von Lesestrategien eine zentrale Bedeutung. Empfohlen werden Übungen mit einer kurzfristigen Präsentation von Wörtern sowie Maßnahmen des wiederholten Lesens, auch zu zweit, wie z.B. bei Lesetandems, wo gute und schwache Schüler zusammen lesen. Ziel ist es, einen Sichtwortschatz aufzubauen, der von den Kindern rasch und sicher erlesen werden kann.

Zielsetzung des Textdetektive-Programms ist die systematische Vermittlung von Lesestrategien im Rahmen des regulären Deutschunterrichts. Bild: textdetektive.de

 

Da Strategien zum Sinn verstehenden Lesen lehr- und trainierbar sind, sollten diese in der Fachliteratur beschriebenen Strategien im Unterricht umgesetzt werden. Zu den empirisch überprüfte Konzepten für strategisches Lesen zählen:

  • Reciprocal Teaching
  • Informed Strategies Learning
  • Transactional Strategies Instruction

Ein bewährtes deutschsprachiges Programm zum Training der Textlesefähigkeit, das stark auf die Vermittlung kognitiver und metakognitiver Strategien ausgerichtet ist, dabei aber auch Aspekte der selbstregulierenden Erkenntnis und Motivation berücksichtigt, ist das Programm „Textdetektive“.

Die Erziehungs- und Bildungswissenschaftler Nell K. Duke und P. David Pearson nennen dazu fünf Schlüsselelemente des Leseverständnisses:

  1. explizite Beschreibung der Strategie und wie sie angewendet werden soll.
  2. ein Lehrer bzw. ein Schüler soll die Strategie vorführen.
  3. gemeinsame Anwendung der Strategie.
  4. angeleitetes Üben der Strategie mit graduell steigender Selbstständigkeit
          der Schülerin/des Schülers.
  5. unabhängige Anwendung der Strategie durch die Schüler

Als Lesestrategien gelten Methoden, die das Verständnis und Behalten eines Textes erleichtern sollen. Zu diesen zählen u.a.:

  • Vorhersagen, was als Nächstes in einer Geschichte passieren wird
  • Lautes Nachdenken von Schülern und Lehrern über einen Text
  • Formulieren eigener Fragen zu einem Text
  • Analyse der Textstruktur
  • Aufbau einer visuellen Textrepräsentation (mind-maps)
  • Zusammenfassen von Textabschnitten

Dabei zeigt vor allem die Vermittlung konkreter Strategien zum Erreichen eines Leseziels eine besonders positive Wirkung. Der Ansatz von der fächerübergreifenden Leseerziehung, wie er im „Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip Leseerziehung“ formuliert worden ist, würde die ideale Möglichkeit bieten, Leseverständnistraining mit der Vermittlung fachlicher Inhalte zu verbinden.

Einen kritischen Blick wirft der Beitrag auf Leseförderprogramme, die sich hauptsächlich auf eine Steigerung der Lesemotivation stützen. Zwar werden die positiven Auswirkungen der Lesefreude nicht grundsätzlich geleugnet, nur habe sich gezeigt, dass Lesefreude nicht 1:1 mit Lesehäufigkeit gleichzusetzen und zu einer Verbesserung der Lesekompetenz führe. Wer schlecht liest, liest ungern und wenig und umgekehrt. In der PIRLS-Studie konnten nur 15% der Unterschiede in den Leseleistungen der Kinder durch Faktoren der Lesemotivation wie z.B. Lesefreude oder das Selbstkonzept als Leser erklärt werden. Aber auch Viellesen bedeutet noch lange kein besseres Textverständnis. Als weitaus effektiver hat sich ein Training der Leseflüssigkeit erwiesen, die z.B. mit der Methode des Lautlese-Tandems gesteigert werden kann.

Wichtig ist, dass die Förderprogramme eine explizite Anleitung zum strategischen Lesen beinhalten und wenn notwendig, auch die basale Lesefertigkeit trainiert wird.

 

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Weiterführende Links:
 

Nationaler Bildungsbericht 2012 mit besonderer Berücksichtigung der Sprach- und Leseförderung

Nationaler Bildungsbericht 2012, Bd. 2: Lesekompetenz, Leseunterricht und Leseförderung im österreichischen Schulsystem. Analysen zur pädagogischen Förderung der Lesekompetenz

Education Group - Bildungs TV: Dr. Karin Landerl, Lesekompetenz, Leseunterricht & Leseförderung

Grundsatzerlass Leseerziehung

Prof. Dr. Anita Schilcher: "Leseförderung in der Grundschule - was man wissen sollte!" Neuere Forschungsergebnisse und Konsequenzen (Fortbildung am 6.6. 2012 in Innsbruck)

Margit Böck, Förderung der Lesemotivation. Schulische Leseförderung im Anschluss an PISA 2000/2003 ; Neue Ansätze für eine Aufgabe im Spannungsfeld der Anforderungen der Schule und den Erwartungen der SchülerInnen

Margit Böck, Gender & Lesen. Geschlechtersensible Leseförderung ; Daten, Hintergründe und Förderungsansätze

Margit Böck, Praxismappe Lesen, Unterrichtsbeispiele für die Förderung der Lesemotivation von Mädchen und Buben in der 5. und 6. Schulstufe

Ein Curriculum zur Leseförderung von Kindern und Jugendlichen (nicht nur) aus den sog. „Risikogruppen “ Prof. Dr. Christine Garbe
ProLesen-Transfer: „Lesen in allen Fächern“

Buchklub: Lesepartnerinnen

Simone Breit/Petra Schneider, Sprachstandsfeststellung im Kindergarten als Grundlage für differenzierte sprachliche Förderung

Handbuch Sprachstandsfeststellungsbogen

Sprachstandsfeststellungsbogen

Handbuch Sprachkompetenz Boobachtungsbogen

Sprachkompetenzbeobachtungsbogen

Fried, L. (2005). Expertise zu Sprachstandserhebung en für
Kindergartenkinder und Schulanfänger


 

>> Nationaler Bildungsbericht 2012: Lesenlernen und Leseerziehung, Teil 1

>> Nationaler Bildungsbericht 2012: Lesenlernen und Leseerziehung, Teil 3

 

Andreas Markt-Huter, 04-02-2014

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