Rezension und Unterrichtstipps: Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben (Susin Nielsen)

Henry, ein dreizehnjähriger kanadischer Junge, wechselt unter dem Schuljahr seine Schule und zieht mit seinem Vater nach Vancouver. Hier versucht er mit allen Mitteln „unter dem Radar zu bleiben“, für seine Mitschüler so gut wie unsichtbar zu sein, denn er muss ein schreckliches Geheimnis verbergen. Sein älterer Bruder Jesse wurde in der alten Schule zwei Jahre lang aufs Übelste gemobbt, körperlich und seelisch verletzt, sodass er zuletzt keinen anderen Ausweg mehr wusste, als seinen schlimmsten Übeltäter zu erschießen und sich dann selber umzubringen.

Henry und sein Vater müssen nun mit dieser schrecklichen Vergangenheit klarkommen. Der Junge besucht einen Psychologen – Cecil -, der ihn dazu ermuntert, eine Art Tagebuch zu führen. Henrys Mama weilt währenddessen in einer Psychiatrie, da auch sie mit dem Geschehenen absolut nicht klar kommt.

Henrys Versuche nicht aufzufallen scheitern und schon bald gewinnt er neue Freunde wie Alberta und Farley, die ebenfalls nicht „normal“ wirken und sich um ihn kümmern und ihn auch nicht fallen lassen, als sie von seiner schrecklichen Vergangenheit erfahren.

Auch in seinem neuen Mehrfamilienhaus lernt Henry nach anfänglichen Schwierigkeiten Menschen kennen, die ihm helfen und seine Situation verstehen.

Als Mama wieder zu Vater und Sohn zieht, ist zwar nicht alles wie früher, aber das Leben scheint Henry wieder lebenswert und er kann in eine bessere Zukunft blicken.

Zum Werk

Das gebundene Buch mit Softcover hat 256 Seiten und ist erstmals 2010 unter dem Originaltitel „The Reluctant Journal of Henry K. Larsen“ erschienen.

Die 1. Auflage der deutschsprachigen Fassung erschien 2016 im cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Autorin des Jugendbuches ist die aus Kanada stammende Susin Nielson, die unter anderem 16 Folgen der Erfolgsserie „Degrassi Junior High“ schrieb.

„Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben“ gewann den renommierten Governor General`s Literary Award und wurde Kinderbuch des Jahres der Canadian Library Association.

Das Jugendbuch wird für Jugendliche ab 12 Jahren empfohlen.

Bewertung

Die Handlung der Geschichte wird im „Tagebuchstil“ verfasst, was spätestens nach „Gregs Tagebüchern“ gerade bei Jugendlichen sehr beliebt zu sein scheint. Die Syntax ist einfach und leicht zu verstehen. Inhaltliche Spannung wird aufgebaut, indem die Autorin zunächst gezielt verschweigt, was Henry in seiner Vergangenheit erleben musste.

Das Geschehene wird immer nur mit „ES“ umschrieben. Erst in der Hälfte des Buches wird offenkundig, was Henry zu verbergen versuchte. „ES“ wird gelüftet und ist sicher für den Leser schrecklicher und grausamer als vermutet.

Darum würde ich das Lesealter eher auf 14 Jahre festlegen, gilt es doch für den lesenden Jugendlichen in diesem Buch einiges zu „verdauen“.

Die Buchkritik der Booklist „Ein federleichter Lesegenuss“ halte ich gerade im Zusammenhang mit der Thematik des Buches als fehl am Platz. Dieses Buch zu lesen war kein Vergnügen im eigentlichen Sinne, wirft es doch die ganze Problematik des Mobbings und deren schrecklichen Folgen auf.

Auch meine Schüler der 8. Schulstufe waren sehr betroffen, als ich ihnen kurz den Inhalt des Buches skizzierte. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen fand ich sofort einige Freiwillige zum „Testlesen“.

Trotzdem verstand es die Autorin mit Herz und Humor, das unfassbar Schreckliche lesen zu wollen, verstehen zu wollen, was Henry empfindet und wie er alles verarbeiten kann.

Gerade die unterschiedlichsten Charaktere des Buches fesseln den Leser, allesamt keine „normalen“ Durchschnittsbürger, jeder mit seinen Problemen und seinem gesellschaftlichen Randdasein behaftet. Ich glaube, gerade die Außenseiterrollen von Henrys Freunden Alberta und Farley werden es den jungen Lesern antun und sprechen vielen Kindern aus der Seele.

Es ist ein trauriges Buch, es ist ein witziges Buch und es ist vor allem ein positives Buch, ohne dabei Dinge zu beschönigen. Ja, das Leben ist manchmal grausam und unfair und schwer, aber es gibt auch Menschen, die anderen ganz uneigennützig die Hand reichen.

Didaktik

Die Grundthematik des Buches „Mobbing und seine Folgen“ ist leider auch in unserem  Schulalltag nicht mehr wegzudenken. Gerade die extreme Handlung im vorliegenden Jugendbuch wird für viel Gesprächsstoff in jedem Klassenzimmer sorgen – und sei es nur als abschreckendes Beispiel für die Folgen von Mobbing.

Wenn auch nicht das ganze Buch gelesen wird, so kann man durchaus Schlüsselszenen auswählen, um das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken.

Neben der Thematik des Mobbings wirken gerade die einzelnen Charaktere des Buches sehr interessant und auch hier wird man Parallelen zum Klima in der eigenen Klasse herstellen können.

Außenseiter gibt und wird es immer geben – „unter dem Radar zu bleiben“, auf keinen Fall aufzufallen, weil man durch Äußerlichkeiten anders ist, auch dies kein Einzelfall und keine Seltenheit unter den Schüler.

Auch das Thema „Verlustangst“ und die Trauer und Bewältigung eines Todesfalles in der Familie wird im Buch immer wieder thematisiert. Dies ist sicher für viele Kinder und auch Erwachsene nach wie vor ein Tabuthema und wird lieber „totgeschwiegen“ als im Klassenraum angesprochen. Auch hier kann das Buch wertvolle Impulse leisten und so behutsam an das Thema herangegangen werden.

Resümee

Zusammenfassend eignet sich das Buch als Klassenlektüre in einer höheren Schulstufe (7. bis 8.), regt zu viel Gesprächsstoff an, inspiriert zu szenischer Darstellung und dient auch auszugsweise als lohnender Schreibimpuls.

Text: Christiane Wolf

Cover: cbt Verlag

Redaktionsbereiche