Rotkäppchen - ein Schreckensmärchen

Tanja Spörr beschäftigte sich mit Märchen vom 17. Jh. bis in die Gegenwart. Im Folgenden vergleicht sie drei Versionen des Rotkäppchenstoffes:

Im 17. Jahrhundert wurden Märchen als Schreckensmärchen mit fatalem Ende erzählt. Sie endeten meist mit dem Tod. Der Grund dafür könnte sein, dass das Leben damals von Gefahren geprägt war. Noch dazu kam, dass die Leute verschiedene Orte mit abergläubisch bedingten Dämonen und Ungeheuern in Verbindung brachten.

Später wurden diese Fantasiegestalten zu „Kindererziehern“ umfunktioniert. Wie heute wollten die Menschen auch damals ihre Nachkommen vor Gefahren, die drinnen und draußen lauerten, warnen und schützen.  Die meisten Handlungen eines Kindes waren mit einer Drohung verbunden oder brachten eine Strafe mit sich. (Kaiste, 2005, S. 58f)

„Le petit Chaperon rouge“– „Rotkäppchen“ -nach Charles Perrault

Die erste Variante des Rotkäppchens von Perrault fängt so an, wie uns das Märchen heutzutage geläufig ist. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem der Wolf im Bett der Großmutter liegt und auf das Rotkäppchen wartet, trägt die Geschichte sich ganz anders zu. Sobald das Mädchen das Zimmer betritt, wird es vom Wolf aufgefordert, sich zu ihm ins Bett zu legen.

Das Kind entkleidet sich, bevor es sich zur vermeintlichen Großmutter legt. Nun ist es dem Bösewicht ausgeliefert und seine Verwunderung über das eigenartige Aussehen und das Verhalten der so geliebten Großmutter wächst immer mehr. Auch der Dialog gestaltet sich anders als im uns bekannten Märchen:

„Das kleine Rotkäppchen zieht sich aus und geht hin und legt sich in das Bett, wo es zu seinem allergrössten Erstaunen sah, wie seine Grossmutter ohne Kleider beschaffen war. Es sagte zu ihr:
"Grossmutter, was habt Ihr für grosse Arme!"
"Damit ich dich besser umfangen kann, mein Kind!"
"Grossmutter, was habt Ihr für grosse Beine!"
"Damit ich besser laufen kann, mein Kind!"
"Grossmutter, was habt Ihr für grosse Ohren!"
"Damit ich besser hören kann, mein Kind!"
"Grossmutter, was habt Ihr für grosse Augen!"
"Damit ich besser sehen kann, mein Kind!"
"Grossmutter, was habt Ihr für grosse Zähne!"
"Damit ich dich fressen kann!"
Und mit diesen Worten stürzte sich der böse Wolf auf Rotkäppchen und frass es.“
(Ritz, 2013, S. 12 )

Hier kann man erkennen, dass zur damaligen Zeit erotische und sexuelle Anspielungen ein fester Bestandteil der Märchen waren.  Interessant ist außerdem, dass Perraults Märchen an dieser Stelle endet.

Brüder Grimm

In Grimms Variante der Geschichte wird die Lehre ins Märchen miteingebaut. (Kaiste, 2005, S. 24) Rotkäppchen selbst verrät die Moral, indem sie folgenden Satz denkt:

„Du willst dein Lebtag nicht wieder vom Wege allein ab in den Wald laufen, wenn dir´s die Mutter verboten hat. (Grimm J. u. W, 2002, S 117)

Weniger bekannt ist, dass es in der Sammlung „Kinder und Hausmärchen“ von Jacob und Wilhelm Grimm noch einen zweiten Teil der Geschichte gibt. Mit dieser Geschichte soll gezeigt werden, dass das Kind wirklich etwas aus seiner Begegnung mit dem Bösewicht gelernt hat. Die Handlung trägt sich wie folgt zu:

Rotkäppchen bringt der Großmutter an einem anderen Tag erneut etwas zu essen. Dabei begegnet es einem anderen Wolf. Der will das Kind ebenfalls vom Weg abbringen. Das mittlerweile erfahrene Rotkäppchen geht aber schnell zur Großmutter und berichtet ihr von der Begegnung. Diese verriegelt sofort die Tür. Als der Wolf klopft und sich als Rotkäppchen ausgibt, öffnen die beiden nicht. Der Bösewicht wartet auf dem Dach mit der Absicht, das Rotkäppchen auf dem Nachhauseweg zu fressen. Die Großmutter ahnt sein Vorhaben und lässt ihre Enkeltochter einen steinernen Trog vor dem Haus mit Wasser füllen, in dem sie zuvor Würste gekocht hat. Der unwiderstehliche Duft steigt dem Wolf in die Nase, der hält es nicht mehr aus und lehnt sich über die Dachkante.

Er rutscht ab, fällt geradewegs in den großen Trog und ertrinkt. Glücklich macht sich das Rotkäppchen auf den Heimweg und niemand tut ihm etwas zuleide. (Grimm J. u. W., 2002, S. 117)

 „Das Rotkäppchen“ nach Ludwig Bechstein

Bechsteins Erzählung vom Rotkäppchen ist eine direkte Bearbeitung der Version der Gebrüder Grimm. Trotzdem übersteigt die Wortanzahl seines Märchens die Fassung der Brüder Grimm bei weitem. Das liegt vor allem daran, dass er sehr ausführlich und „verschnörkelt“ erzählt. Er verniedlicht sehr viele Dinge und fügt übermäßig viele Adjektive hinzu.

Ein weiteres Merkmal seiner Erzählungen ist, dass er die Charaktere sehr viel sprechen lässt und eine Schwäche für Wortspiele hat. Es wirkt manchmal so, als würde der Schreiber sich über seine eigene Erzählung amüsieren und die Glaubhaftigkeit der Geschichte in Frage stellen. (Kaiste, 2005, S. 26-29) Hier ein Beispiel:

„Sage mir doch noch, mein liebes scharmantes Rotkäppchen, wo wohnt denn deine Großmutter? […]
»Ei gar nicht weit von hier, ein Viertelstündchen, da steht ja das Häuschen gleich am Walde, Ihr müßt ja daran vorbeigekommen sein. Es stehen Eichenbäume dahinter, und am Gartenzaun wachsen Haselnüsse!« plauderte das Rotkäppchen.
O du allerliebstes, appetitliches Haselnüßchen du – dachte bei sich der falsche böse Wolf. Dich muß ich knacken, das ist einmal ein süßer Kern. – Und tat als wolle er Rotkäppchen noch ein Stückchen begleiten und sagte zu ihm: »Sieh nur, wie da drüben und dort drüben so schöne Blumen stehen, und horch nur, wie allerliebst die Vögel singen! Ja, es ist sehr schön im Walde, sehr
schön, und wachsen so gute Kräuter darinnen, Heilkräuter, mein liebes Rotkäppchen.«
»Ihr seid gewiß ein Doktor, werter grauer Herr?« fragte Rotkäppchen, »weil Ihr die Heilkräuter kennt. Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine kranke Großmutter zeigen!“ »Du bist ein ebenso gutes wie kluges Kind!« lobte der Wolf. »Ei freilich bin ich ein Doktor und kenne alle Kräuter, siehst du, hier steht gleich eins, der Wolfsbast, dort im Schatten wachsen die Wolfsbeeren, und hier am sonnigen Rain blüht die Wolfsmilch, dort drüben findet man die Wolfswurz.« »Heißen denn alle Kräuter nach dem Wolf?« fragte Rotkäppchen.

In Bechsteins Variante des Märchens wird die Lehre, wie bei den Brüdern Grimm, ins Märchen miteingebaut.

Die Erziehungsaufgabe wird also auch in diesem Märchen klar hervorgehoben, sie ist aber weit weniger drastisch als im Märchen von Perrault.

Fazit des Vergleichs

Auch wenn die Märchen von Perrault, Grimm und Bechstein sehr unterschiedlich sind, eines haben sie alle gemeinsam. Sie wollen mit Hilfe des Schreckens darauf aufmerksam machen, wie gefährlich es für Kinder sein kann, ungehorsam zu sein und die Ratschläge der Eltern zu missachten.

Die pädagogischen Warn- und Schreckmärchen zur damaligen Zeit griffen die Themen Verbot bzw. Warnung – Übertretung des Verbots – Strafe und Rettung auf.

In den Geschichten wird vermittelt, dass Triebe wie Eigensinn, Ungehorsam und Neugierde fatale Folgen haben könne. (Kaiste, 2005 S. 53) Dies trifft vor allem auf die älteren Warn- und Schreckmärchen aus dem 17. Jahrhundert von Perrault zu. Wie man oben erkennen kann, warnt der Franzose mit angsteinflößenden Folgen. Im 18. Jahrhundert wurden diese Märchen verbannt und gleichzeitig durch andere Warnmärchen ersetzt.  Mit dem Werk der Brüder Grimm, also den neueren Warnmärchen aus der Romantik, werden die Folgen ein wenig abgeschwächt, trotzdem ist noch eine deutliche Warnbotschaft zu erkennen. 

Text: Tanja Spörr

Bild: Wikipedia (Gemeinfrei)

Literatur:

  • Fiederer, Margrid: Vorwort. In: Sammelband „Brüder Grimm“, Kinder- & Hausmärchen. Augsburg. Weltbild GmbH. Sekularausgabe. 2002,.
  • Grimm, Jacob und Wilhelm. In: Sammelband „Brüder Grimm“, Kinder- & Hausmärchen. Augsburg. Weltbild GmbH. Sekularausgabe. 2002,.
  • Kaiste, Jaana. Das eigensinnige Kind (Bd. 1). Stockholm, Schweden. Uppsala University. 2005
  • Ritz, Hans. Die Geschichte vom Rotkäppchen. Kassel, Deutschland: Muriverlag. 2013

 

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