Étienne de La Boétie, Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft

Kampfschriften, Aufrufe und Epochen-Essays lösen im Idealfall viel mehr aus, als es dem meist schmalen Text auf den ersten Blick zugemutet wird. Eine Auseinandersetzung mit diesen „Text-Preziosen“ ist immer auch eine Überlegung darüber, wem so ein Diskurs nützen könnte.

Bernd Schuchter vom Limbus Verlag hat den Text aus dem Jahre 1574 in seiner romantischen Übersetzung von 1821 vielleicht aus drei Gründen ausgewählt und aufbereitet. Einmal um zu zeigen, dass es pro Epoche nur eine Meinungshoheit gibt. La Boétie wäre nie bekannt geworden, hätte sich nicht Montaigne um ihn gekümmert und sich auch seinen Text unter den Nagel gerissen. So ist die „Knechtschaft“ erst nach dem Tod des Autors als Zuliefertext für Montaigne gedruckt worden.

Der zweite Grund könnte die zeitnahe Übersetzung des Textes zum beginnenden Hofer-Kult sein. Nicht nur die Tiroler haben romantisch ihren Widerstand zelebriert, der ganze Kontinent ist um diese Zeit anfällig für Widerstand und Selbstdefinition.
Der dritte Grund könnte das Entreißen eines Textes aus einer bestimmten Schublade sein. Die „Knechtschaft“ ist vor allem in den 68er Bewegungen als Vorläuferin der „Anarchisten“ gedeutet worden.

Der Text liest sich beinahe märchenhaft schön, letztlich wird kindlich-geradlinig gefragt, warum seid ihr nicht ungehorsam und verweigert euch dem Tyrannen? Als höchstes Unglück gilt es, „einem Herrn unterworfen zu sein, von dem man nie versichert sein kann, ob er gut ist, weil es in seiner Gewalt steht, schlimm zu sein, sobald er nur will.“ (7)

Als Erklärung für das Funktionieren von Tyrannei und Gewaltherrschaft gilt die „Feigherzigkeit“, durch sie entsteht eine freiwillige Knechtschaft. Zumindest theoretisch ist das Gegenmittel recht einfach, man brauch der Macht nichts wegzunehmen, man darf ihr bloß nichts geben. So gilt der Essay als ein Meilenstein für die Theorie des Ungehorsams und des Widerstands gegen den Staat.

In Theorie und Praxis wirkt der Text bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Wenn Refugees Sicherheitskräfte überspringen und auf der Autobahn offensichtlich einem Ziel jenseits des Polarkreises entgegenrennen, haben sie jegliche Tyrannei überwunden und sich aus jeglicher Knechtschaft befreit.

Gleichzeitig wird der Text, der die freiwillige Knechtschaft bekrittelt, selbst zum Ort der Unfreiheit und Unterdrückung. Bereits Montaigne hat noch zu Lebzeiten von La Boétie sich den Text einverleibt und tyrannisch bestimmt, was ein Text darf und was nicht. Gerade Texte der Befreiung werden oft als erste geknebelt und unter das Joch eines Parteiprogramms, eines Instituts oder auch des Kanons gebracht.

Der erste Schritt zur Befreiung besteht nach wie vor in der Freiheit zu lesen was man will. Auch das wird in Zeiten einer normierten Literatur immer schwieriger. Die Essay-Reihe bei Limbus versucht diese Norm-Literatur zu überwinden.

Étienne de La Boétie, Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft. Essay, übers. v. Johann Benjamin Erhard [1821] [Orig. Titel: Discourse on Voluntary Servitude]. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bernd Schuchter
Innsbruck: Limbus Verlag 2016 (= Preziosen), 96 Seiten, 7,00 €, ISBN 978-3-99039-081-8

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Étienne de La Boétie, Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft
Wikipedia: Étienne de La Boétie

 

Helmuth Schönauer, 22-04-2016

Bibliographie

AutorIn

Étienne de La Boétie

Buchtitel

Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft

Originaltitel

Discourse on Voluntary Servitude

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Limbus Verlag

Herausgeber

Bernd Schuchter

Reihe

Preziosen

Übersetzung

Johann Benjamin Erhard

Seitenzahl

96

Preis in EUR

7,00

ISBN

978-3-99039-081-8

Kurzbiographie AutorIn

Étienne de La Boétie, 1530-1563. Johann Benjamin Erhard 1755-1827.