Angelika Rainer, Odradek

In der idealen Erzählung wird der Leser zu einem Kokon versponnen und somit ein Teil der Erzählung.

Der rätselhafte Begriff Odradek geht auf eine Erzählung Franz Kafkas zurück, worin eine gesichtslose Zwirnspule mit dem Hausvater in ein Gespräch tritt und ihm rätselhafte Zusammenhänge aus dem Untergrund des Hauses offenbart.

Angelika Rainer erweckt diese mysteriöse Kafka-Situation zu einem akuten Leben, indem sie den Hausherrn mit dem Zwirn-Wesen in ein Gespräch bringt, worauf dieses in sogenannten Nachtstücken aus dem Dunkel heraus von Nachtverflechtungen erzählt. Die Erzählsituationen sind überschrieben mit Unterredung, Nachtstücke, Von der Seele und Coda.

Odradek erzählt nur wenig von sich, oft sind es Fügungen, die nur für ein paar Augenblicke gelten, dann wiederum handelt es sich um einen zeitlosen Zustand.

Müdigkeit kleidet mich inwendig aus wie Samt eine Schachtel für alte Briefe. (8)

Nachdem der Hausvater Odradek in seiner Müdigkeit ein wenig aufgestachelt hat, beginnt dieser tatsächlich zu erzählen, in kleinen, dunklen Portionen, die sich Nachtstücke nennen. Darin tauchen logischerweise Träume auf, die sich ihrerseits zieren, ans Tageslicht gezerrt zu werden. Oft wissen die träumenden Figuren nicht, ob sie „im Traum zitiert oder zerteilt“ werden. (33)

Ein Falter legt Eier ins Kraut, jemand verliert Sätze wie Murmeln in den Manteltaschen, ohne Grund wird vor dem Haus Sand abgeladen. Die Geschichten springen mit jähen Spitzen an und erwischen den Zuhörer stets auf dem falschen Fuß der Empfindung. Aber nicht nur die Geschichten selbst huldigen einer grotesken Dramaturgie, auch der Transport von Nachrichten geht oft seltsame Wege, indem beispielsweise Botschaften im Glockenband der Leit-Kuh versteckt werden. (49)

„Der Ort lag in Schluchten ohne Ereignis,“ (59) heißt es einmal recht rätselhaft, die Lage dieses Ortes bringt es freilich mit sich, dass die Bewohner schlaflos werden in Erwartung von Schnee, der die Ereignislosigkeit beenden könnte.

Gegen Ende kommt die sogenannte Seele zum Vorschein, indem ihr alles Erzählte von der Seele geschabt wird, übrig bleibt die reine Frage, wo man war bevor man wurde? Coda schließlich führt alles bisher Erzählte zusammen und löste es auf.

Ob ich die Zeichen erkennen werde / ob der Wind ein Zeichen geben wird /ob ich imstande sein werde zu erinnern (79)

Angelika Rainer erzählt mit dem Handwerk eines rätselhaften Literaturwesens einen unsichtbaren Odradek-Strang weiter, den Kafka vor hundert Jahren ausgelegt hat. Sie führt als musikalisches Odradek-Wesen die poetischen Verläufe in ein fragiles Stück über, worin Fragen, Träume und Anrisse in einen harmonischen Nachklang gebracht werden.

Angelika Rainer, Odradek. Zeichnungen von Ernst Trawöger.
Innsbruck: Haymon 2012. 79 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-85218-736-5.

 

Weiterführender Link:
Haymon-Verlag: Angelika Rainer, Odradek

 

Helmuth Schönauer 24/09/12

Bibliographie

AutorIn

Angelika Rainer

Buchtitel

Odradek

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Haymon-Verlag

Illustration

Ernst Trawöger

Seitenzahl

79

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-85218-736-5

Kurzbiographie AutorIn

Angelika Rainer, geb. 1971 in Lienz, lebt in Wien.