Anna Rottensteiner, Lithops. Lebende Steine

Um mit der Vergangenheit zurechtzukommen, lässt eine Gesellschaft oft die Geschichte in Stein meißeln oder aus dem Stein wichtige Figuren als Denkmäler heraushauen. Lithops hingegen sind Pflanzen, die wie Stein ausschauen, aber lebendig sind. Eine ideale Metapher für das Wuchern von Geschichte.

Anna Rottensteiner erzählt in ihrem Roman „Lithops“ von der Verwachsenheit Südtirols in der jüngeren europäischen Geschichte. Zu diesem Zweck treffen die Römerin Dora und der Südtiroler Bauernbub Franz in explosiven Situationen öfters aufeinander. Dabei ist die Geschichte schon vorbei, die beiden sitzen zwischendurch an einer finnischen Küste fest und wissen nicht, wie sie mit sich weitermachen sollen.

Kennengelernt haben sich die beiden als Kinder in der faschistischen Vorkriegszeit. Zur Mutter von Franz ist ein italienischer Lehrer einquartiert worden, in den Ferien hat er Dora aus Rom nachkommen lassen. Dieses jugendliche Aufflammen und Erröten passiert nicht nur den Figuren, sondern auch den politischen Systemen.
Die Südtiroler wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, was sie machen, es ist immer falsch. An manchen Tagen bekommen die einen Recht, dann wieder die anderen.

Die Optanten fühlten sich in ihrer Entscheidung bestätigt. Das Reich war zu ihnen gekommen, sie mussten nicht mehr auswandern. (63)

Franz wird dann doch noch eingezogen und meldet sich zu einem Sonderauftrag, nämlich den Duce in seiner Fragment-Republik Salò zu bewachen und ihn bei seinem Treiben zu unterstützen. Zur gleichen Zeit hat sich auch Dora für diese Duce-Einheit gemeldet. Überraschend treffen sie aufeinander und wissen nicht, wie sehr sie einander lieben, trauen oder sich ausliefern sollen.

Diese wackeligen, ambivalenten Positionen verfolgen die beiden schier ein Leben lang. Wenn sie schon selbst für sich nicht herausbekommen, was richtig ist, wie soll es dann ein Land herausfinden.

„Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich um das Leben betrogen fühlt und niemand dich danach fragt warum“, (113) fasst Dora einmal ihren Lebenslauf zusammen. Als Künstlerin versucht sie, lebende Steinskulpturen zu konstruieren, ein fast unmögliches Unterfangen, weil alle Materialien immer in Bewegung sind und sich nichts festmachen lässt.

Anna Rottensteiner führt mit dem Roman, der durchaus wie ein lebendiger Stein in der Geschichtsschreibung aufliegt, die biographischen und politischen Kurven zusammen, die sich selten in Einklang bringen lassen. Dabei ist großes Verständnis für die Figuren spürbar, sie reißen sich ein Leben lang zusammen, und dennoch werden sie zerrissen. – Eine versöhnliche Art, die Zeitgenossen in ihrer Geschichtslage zu verstehen.

Anna Rottensteiner, Lithops. Lebende Steine. Roman.
Innsbruck: Edition Laurin 2013. 121 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-902866-06-6.

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Anna Rottensteiner, Lithops. Lebende Steine

 

Helmuth Schönauer, 09-04-2013

Bibliographie

AutorIn

Anna Rottensteiner

Buchtitel

Lithops. Lebende Steine

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

121

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-902866-06-6

Kurzbiographie AutorIn

Anna Rottensteiner, geb. 1962 in Bozen, lebt in Innsbruck.