Attila Bartis, Das Ende

Das aufwühlendste Wort einer Sprache ist wahrscheinlich „Ende“. Wer fühlt sich dabei nicht sofort in ein Kino verschlagen, voller Gefühle und Nachdenklichkeit, wenn das Wort Ende von der Leinwand strahlt und allmählich Licht einsetzt.

Attila Bartis setzt sein Ende an den Schluss einer Gesellschaftsstudie, worin der Held Andás einen Familien- und Erotikfilm selbst erlebt und als Fotograf in eine Bildsprache übersetzt. Der Ich-Erzähler stochert in tausenden von Sequenzen herum, in denen flackernd diskutiert, gelitten, gearbeitet und geliebt wird.

Die einzelnen Szenen tauchen plastisch auf und werden wie für einen Katalog beschlagwortet und mit Schlüsselbegriffen versehen. Der Spiegel, in der Kirche, das letzte Bild meines Vaters, diese Schnappschüsse sind in Klammern versehen und variabel an den Kontext geklebt, man könnte wahrscheinlich eine andere Reihenfolge abrufen, denn die Assoziationskette ist nach dem Zufallsprinzip ausgelegt.

In den beiden großen Abschnitten geht es einmal um die Kindheit in einer kleinen ungarischen Stadt und zum anderen um die große erotische Kunstliebe zur Fotographie und zur Pianistin Eva.

Das ungarische Schicksalsjahr 1956 flackert in dunklen Sequenzen auf, der Vater verbockt den Aufstand und verschwindet wie Tausende im Gefängnis. Als Vater gebrochen heimkommt, stirbt bald einmal die Mutter, und Vater und Erzähler ziehen nach Budapest. Vielleicht hängt die Sehnsucht nach Bildern mit diesen gebrochenen Elternflügeln zusammen. Der Held kann sich jedenfalls kaum erinnern, wann er mit dem Fotografieren begonnen hat, zumal seine ersten Bilder Nachtaufnahmen mit scheinbar schwarzem Nichts gewesen sind.

Ein Bild wird gut, wenn du es vorher durchdenkst! (136)

Nach dieser These lässt sich nicht feststellen, was zuerst ist, das Bild oder das Abbild, denn beides ist erzählte Komposition.

So lässt sich auch später in der leidenschaftlichen Liebe zu Eva nicht auseinanderhalten, was inszenierte Leidenschaft oder leidenschaftliche Inszenierung ist. Eine Schlüsselerfahrung jener Zeit hat damit zu tun, dass man verrückt werden muss, um das Ende davon zu erleben.

So trösten sich die Gescheiterten des Aufstands damit, dass sie verrückt werden müssten, wenn sie das Ende des Regimes erleben müssten. Und auch die Leidenschaft einer Künstlerliebe zwischen Pianistin und Fotograf lässt sich nur abrunden, wenn das Ende bereits mitbedacht ist.

Als Andras seine Eva aus dem Auge verliert, versenkt er sich in die Kunst des Fotografierens und entwickelt dabei eine Theorie des Erzählens, die er sich von Ingmar Bergmanns Schweigen abschaut.

Jegliche Kunst lässt sich nur vom Ende her betreiben. Als ihn der Vater bittet, ihn noch einmal abzulichten, weiß der Held, dass es mit Vater vorbei ist und er jetzt ein Fotograf ist. Als er vom Unfalltod Evas erfährt, kann er die leidenschaftlichen Begegnungen allmählich zu einer Geschichte zusammenfügen, die sich ruckelnd erzählen lässt. Tatsächlich lassen sich Geschichten nur vom Ende her erzählen, wenn die einzelnen Kapitelplatten bereits belichtet sind.

Es gibt fast niemanden mehr. Weder meine Mutter noch meinen Vater. Noch János Kádár. Noch Éva. Und dennoch ist alles fast genauso, wie es war. Einmal glatt, einmal verkehrt, einmal glatt. (751)

Attila Bartis erzählt das Ende, und dadurch tut sich ein halbes Jahrhundert Ungarn auf.

Attila Bartis, Das Ende. Roman, a. d. Ungar. von Terézia Mora [Orig.: A vége, Budapest 2015]
Berlin: Suhrkamp 2017, 751 Seiten, 32,90 €, ISBN 978-3-518-42763-7

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Attila Bartis, Das Ende
Wikipedia: Attila Bartis

 

Helmuth Schönauer, 03-02-2018

Bibliographie

AutorIn

Attila Bartis

Buchtitel

Das Ende

Originaltitel

A vége

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Terézia Mora

Seitenzahl

751

Preis in EUR

32,90

ISBN

978-3-518-42763-7

Kurzbiographie AutorIn

Attila Bartis, geb. 1968 in Marosvásárhely, lebt auf Java und in Budapest.