Ferenc Barnás, Ein anderer Tod

Die höchste Kunst des Erzählens ist die Auflösung von Ort, Zeit und Handlung, sie führt vielleicht zu einem anderen Tod.

Ferenc Barnás gelingt etwas, das alle Schreibwerkstätten und Erzähllehrstühle ad absurdum führt, er fesselt die Leserschaft mit einem sperrigen Textblock, der nicht einmal Roman genannt wird und kaum Handlung, Zeitgeist oder Didaktik enthält. Es geht vielleicht um das Zusammenführen unbewusster Gedankenströme am Kontinent, um das Abtauchen eines Individuums in der eingedickten Zeitgeschichte und um die Transformation zerlegter Augenblicke in die Zeitlosigkeit.

Vom Druckbild her gesehen läuft alles auf eine kompakte Lesewurst hinaus. Nach seitenlangen Blöcken gibt es ab und zu eine Regieanweisung wie etwa: „Bestimmte Sachen wiederholten sich immer wieder.“ (235) In die ganze Textstange sind mit kleinen Sternchen neun Kapitelanfänge eingeritzt, je nach Schwere des Kapitels reicht die Wertung von einem Sternchen zu Beginn bis zu acht Zeichen im mittleren Abschnitt.

Im vorderen Drittel kommen ein paar Protagonisten zum Vorschein, denen man ein Schicksal zumutet und die so etwas wie Gedankenträger einer Idee sind. Ein ehemaliger Uni-Professor ist völlig von der Rolle und in psychiatrischer Behandlung, er lässt sich im dritten Stock das Fenster vergittern, damit er keinen unerwarteten Besuch bekommt. Auch im Stiegenhaus bewegt er sich argwöhnisch, ihm hat offensichtlich die Welt übel mitgespielt.

Auf einem anderen Erzählstrang versucht eine ehemalige Aristokratin das Erbe mit unendlichen Listen zu retten und zu verwalten. Die dritte Überlebensmöglichkeit liefert ein Kellner im Ausland, der aber überraschend im Suizid endet.

Diese drei Haltungen liefern vielleicht drei Überlebensstrategien, mit denen das gegenwärtige Ungarn vertraut ist. Die Psychose, das Revitalisieren des Adels und die Arbeit im Ausland sind die Außenstationen eines Vorgangs, der sich noch nicht definieren lässt und den ein in Ich-Form erzählender Schriftsteller „Variationen“ nennt.

In den Variationen geht es darum, Veränderungen zumindest wahrzunehmen, wenn man sie schon nicht steuern kann. „Es passiert mit dir“ heißt so eine Fügung, die das Subjekt als Treibgut recht hilflos wirken lässt.

Auf gewisse Sachen kann man sich nicht vorbereiten (252).

Diese Einschübe von Lebensweisheiten haben für den Helden den gleichen Stellenwert wie das Entfernen-lassen einer Warze oder die überraschende Notaufnahme scheinbar ohne Grund.

Der Held baut sich eine eigene Parallelwelt auf, indem er einerseits jeden Job anzunehmen vorgibt und dann ständig als Lehrer von einer Schule zur nächsten unterwegs ist. Aber diese Berufe vertragen sich nicht mit den Variationen, auch nicht die Stelle als Wärter in einer Galerie, die von der Gräfin geführt wird. Letztlich ist ihm selbst nicht klar, was Arbeitssuche, Job oder Dokumentation ist.

Aus dem kalten Stoff von Warten, Zögern und Neuanfang entsteht eine beinahe eingefrorene Stimmung. Aber vielleicht hat sich doch etwas getan, denn den Wandel merkt man erst im Nachhinein. (224) Oder vielleicht ist das alles nur eine andere Art von Tod, immerhin beten sie am Michaelstag um einen schönen Tod. - Ein Psychogramm einer lädierten Gesellschaft.

Ferenc Barnás, Ein anderer Tod. A. d. Ungar. von Eva Zador. [Orig.: Másik halál, Pozsony 2012]
Wien: Nischen Verlag 2016, 338 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-9503906-3-6

 

Weiterführende Links:
Nischen Verlag: Ferenc Barnás, Ein anderer Tod
Wikipedia: Ferenc Barnás

 

Helmuth Schönauer, 14-05-2016

Bibliographie

AutorIn

Ferenc Barnás

Buchtitel

Ein anderer Tod

Originaltitel

Másik halál

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Nischen Verlatg

Übersetzung

Eva Zador

Seitenzahl

338

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-9503906-3-6

Kurzbiographie AutorIn

Ferenc Barnás, geb. 1959 in Debrecen, lebt in Budapest.<br />Eva Zador, geb. 1966 in Frankfurt/M, Studium der Finnougristik in Göttingen.