Gerhard Henschel, Künstlerroman

Fette Serienromane nehmen die Edition als Werkausgabe gleich vorweg und ersparen uns so diese kommentierten Ausgaben, die die Germanisten mittlerweile an allen Ecken und Enden loslassen.

Gerhard Henschel nämlich hat nichts anderes im Sinn, als seinen Helden Martin Schlosser halbwegs heil und unkommentiert durch die letzten Jahre der Bundesrepublik zu führen. Er nennt dessen Lebens-Abschnitte nach allgemeinen Gattungsbezeichnungen des Bildungsbürgertums schlicht Kindheitsroman, Jugendroman, Liebesroman, Abenteuerroman und jetzt Künstlerroman. Jeder Auftritt hat mindestens fünfhundert Seiten und beschäftigt sich mit dem heldenhaft quälenden Voranschreiten des Martin Schlosser, der im aktuellen Band bei 1986 angekommen ist.

Die zwei Stränge der Erleuchtung stehen wieder voll unter Strom, einerseits geht im Studium trotz aller Umsicht nichts weiter, andererseits ist das provinzielle Zuhause im Dorf Meppen verlässlich muffig und provinziell, das nur kurzfristig die Batterien aufladen lässt. Martin Schlosser kommt jetzt an die Schwelle, wo er sich als Künstler outen wird, und sei es nur deshalb, weil er sich plötzlich für einen satirischen Texter hält, der reif für die Titanic wäre.

Bis zu dieser Entscheidung, die ja letztlich nichts entscheidet, ist es ein langer Weg zwischen Alltagsjobs bei Tetra-Pack und diversen Pfusch-Handwerken, die das Dahinplätschern an diversen Instituten nicht restlos substituieren können. Und zu Hause kriegen in der Verwandtschaft regelmäßig die einen Kinder und die anderen Krankheiten. Und das Häuschen braucht ständig eine Reparatur.

Selbst eine Trennung von der Dauerfreundin zeigt nur, wie verschmolzen das Paar eigentlich schon ist, beide leiden wie die Hund aber ziehen die Trennung im Sinne der Selbstfindung durch.

Der Zeitgeist kommt in Form von Bhagwan-Seminaren, Tschernobyl und Aids mehr oder weniger als Diffusum auf die Menschen zu, die Künstler reagieren mit Schnulzen, wie Andre Heller (102), der um einen Augenblick an Zuneigung bittet.

Oder die Kreativen mutieren zu einem Volkschor, der „Innsbruck ich muss dich lassen“ auf einem niedersächsischen Sender ausströmen lässt. Die Verbindung von allgemeinem Ereignis und individueller Rezeption macht die Zeitgeschichte schon in Echtzeit zu einem Erlebnis.

Innsbruck ich muss dich lassen … // Alle in einen Sack stecken und draufhauen, rief der Fahrer. Da triffste immer den Richtigen. (197)

Einerseits beklagt der Held, dass er nichts erlebt, und schreibt deshalb seine Erfahrungen bei Tetra-Pack auf (28), andererseits ist so viel an Ereignislosigkeit los, dass er das sonst so hoch gehaltene Wettertagebuch vernachlässigt.

Wie in allen Schlosser-Romanen erleben wir die nähere Zeitgeschichte als Déjà-vu, jeder von uns hat diversen Klamauk als Pressemitteilung, Sendung, Stammtisch oder Tagebuch selbst erlebt. Da die Ereignisse schon durch den Helden gebrochen sind, sind sie völlig logisch und objektiv, denn das Subjektive der Erinnerung wird allgemeingültig, wenn es sauber erzählt ist. Und Gerhard Henschel erzählt sauber und genau!

Gerhard Henschel, Künstlerroman
Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 2015, 572 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-455-40498-2

 

Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe Verlag: Gerhard Henschel, Künstlerroman
Wikipedia: Gerhard Henschel

 

Helmuth Schönauer, 05-01-2016

Bibliographie

AutorIn

Gerhard Henschel

Buchtitel

Künstlerroman

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Hoffmann & Campe Verlag

Seitenzahl

572

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-455-40498-2

Kurzbiographie AutorIn

Gerhard Henschel, geb. 1962 in Hannover, lebt in der Nähe von Berlin.