Herbert J. Wimmer, Wiener Zimmer

Allein wenn man über den Begriff „Wiener Zimmer“ zu rätseln beginnt, landet man mit einem Bauchfleck in den semantischen Überlegungen des Autors. Ist das Wiener Zimmer etwas wie die Wiener Melange, ist das Zimmer übriggeblieben aus Kuchl-Kabinett, ist es die räumliche Antwort auf das Frauenzimmer?

Herbert J. Wimmer errichtet streng nach Bauplan ein sprachliches Kunstwerk mit hundert Zimmern. Im Abspann gibt es zuerst ein Inhaltsverzeichnis mit Nummerierung und Titel und als Abrundung sind die Entstehungsdaten wie in einem rätselhaften Kalender einer verschollenen Lyrik-Kultur angelegt. Der Großteil der Texte stammt aus 2009, die Ausreißer sind von 2003 und 2012.

Auffallend sind vor allem die Extreme, was den Umfang betrifft. Während ein Großteil der Texte die Seiten im goldenen Lyrikschnitt füllt, sind hier die Ausreißer ein paar Spruchgedichte und vor allem die elendslange Sprachelegie von Otto.

Vielleicht ist ein alter Sprachstamm der Ottonen im Sprachlabor wieder zum Leben erweckt worden, jedenfalls überwuchert „otto“ alle denkmöglichen Formulierungen. „Ottobertag / ottobestimmung / ottochrom / ottodach / ottodidakt / ottographisch / ottomatismus“ (122ff), der Otto-Kosmos scheint nie zu versiegen und zeigt, dass unsere Sprache mit einem kleinen Wiener Schmäh ins „D-otto-ische“ gedreht werden kann.

Auf dem kurzen Sprach-Ast zwitschern lyrische Vögel Reflexionen wie: „pausenraum // wenn ich nichts zu tun habe / was mit mir zu tun hat / bin ich im pausenraum / dort habe ich mit mir zu tun / während ich nichts tu“ (93).

Natürlich tut sich bei solchen Wiener Zimmern eine Gedankenbrücke zur Wiener Gruppe auf, die oft Gedichte wie Möbel auf den Kopf gestellt hat. In diesen Wiener Zimmern weht politisch gesehen der Hauch der Nuller Jahre, es geht um das Dechiffrieren sinnloser Schüssel-blauer Botschaften, um das Verstecken des Geistes in Floskeln, um das Archivieren von Ereignissen als Sprachdenkmäler oder um höchst notwendige Identitätsdurchflutung.

Wer zu lange in einem Wiener Zimmer sitzt, bekommt es mit der Identitätskrise zu tun, verkrallt in den eigenen Schreibtisch erwartet das lyrische Ich den nächsten Winter, der vielleicht in Gestalt der Zehner Jahre kommen wird.

Herbert J. Wimmer schafft mit den Gedichten „Wiener Zimmer“ jedenfalls doppeltes Glück, zum einen darf man an schwächeren Tagen seine Texte flott überfliegen und manchmal hemmungslos lachen, wie diese Texte irgendwo mit dem Spieltrieb in einer Sandkiste liebäugeln, zum anderen sind für die tieferen Tage die Texte tatsächlich voller Tiefgang, Rätsel und Mehrdeutigkeit. In den Wiener Zimmern darf man sich recken und strecken und manchmal auch etwas Luft hinten herauslassen, befreiend.

Herbert J. Wimmer, Wiener Zimmer. 100 Gedichte
Wien: Klever Verlag 2014, 144 Seiten, 15,90 €, ISBN 978-3-902665-85-0

 

Weiterführende Links:
Klever Verlag: Herbert J. Wimmer, Wiener Zimmer
Wikipedia: Herbert J. Wimmer

 

Helmuth Schönauer, 11-08-2016

Bibliographie

AutorIn

Herbert J. Wimmer

Buchtitel

Wiener Zimmer. 100 Gedichte

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Klever Verlag

Seitenzahl

144

Preis in EUR

15,90

ISBN

978-3-902665-85-0

Kurzbiographie AutorIn

Herbert J. Wimmer, geb. 1951 in Melk, lebt in Wien.

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