Holger Brüns, Das Oderbruchbuch

Von manchen Gegenden genießt man ein Leben lang ihren guten Klang und trägt den Wunsch vor sich her, sie einmal aufzusuchen. Der Oderbruch ist so ein Faszinosum, das wir vor allem dann in den Medien sehen, wenn alles unter Wasser steht.

Holger Brüns hat sich vor Jahrzehnten im Oderbruch niedergelassen, zuerst als Wochenendaussteiger, dann als historisch neugieriger Chronist und schließlich als Künstler, der den Oderbruch als Gestaltungsraum nützt. „Dort wo anscheinend nichts geschieht, ist der Zuhörer eingeladen, seine Konzentration anzuwenden.

Zwischen den Anschlägen des Klavierstücks. Zwischen voneinander entfernten Zeitpunkten, zu denen Tonkomplexe erklingen.“ heißt es über die Stille, beispielsweise in den Inseltexten von Florian Neuner. Dieses scheinbar ereignislose Leben ist aber eine unerschöpfliche Quelle für ein Tagebuch, das jeden Tag zu Ende sein könnte und deshalb ständig fortgeschrieben wird.

Das Oderbruchbuch ist daher eine Art Bestandsaufnahme, wenn es um die Geschichte der Trockenlegung des Gebietes geht. Halb Europa hat seinerzeit mitgeholfen, aus dem Nichts eine Brache zu machen, aus der Brache einen Kunstraum. Das Bewässerungssystem der alten Ägypter ist genauso in die Erde geschrammt wie das Niederländische Pumpsystem oder die Aktschläge russischer Sumpfexperten. Selbst wo nichts ist, ist zurückgenommene Kultur.

Und üppig wird die Feuchtgebiets-Karte, wenn man sie mit Kranichen und anderem geschützten Getier ausstattet. Die Pflanzungen braucht man nur schön zu finden und schon sind sie es, ganz avantgardistisch wie sie sich gebärden.

Wie sich so ein Bild im Kopf festsetzt. Wie es wohl entsteht? Mein Bild von Bärenklau und Staudenknöterich ist bereits älter als das Internet und hat sich lange vor Wikipedia gebildet. Und trotzdem ist es ein Bild aus zweiter Hand, denn meine Erfahrungen mit diesen beiden Einwanderern sind doch nur rudimentär. (33)

Der Oderbruch weitet sich allmählich zu einer Erfahrungsbox auf, man bringt seine Außenwelt mit und lässt sie im botanischen Gewucher transformieren.

Allmählich entwickelt sich auch ein soziologisches Geflecht, die ehemaligen Einsiedler schauen einander zu, wie sie das Leben bewältigen, wenn etwa die Kohlen kommen. Tatsächlich kommunizieren die Oderbruch-Lebenskünstler wie Pflanzen miteinander, sie haben biegsame Argumente aber eine feste Verwurzelung im eigenen Standpunkt.

Reduzierte Signalfotos von einem Kohlenhaufen, einem Kabel über dem abgedorrten Maisfeld, ein Äste-Arrangement vor bewölktem Himmel zeigen diesen Oderbruch als fließende Brache in der puren Zeit.

Holger Brüns hat mit diesem Oderbruchbuch auch ein neues Kapitel der Dokumentation eröffnet, Tagebuch, Kassabuch, Traumbuch, Fahrtenbuch: von allem steckt etwas in diesem Text, der auf jeder Seite zu Ende ist und sich dennoch immer von selbst weiterschreibt.

Holger Brüns, Das Oderbruchbuch. Aufzeichnungen aus einem ereignislosen Leben, mit Fotos von Django Knoth
Berlin: Verbrecher Verlag 2016, 139 Seiten, 14,00 €, ISBN 978-3-95732-115-2

 

Weiterführende Links:
Verbrecher Verlag: Holger Brüns, Das Oderbruchbuch
Homepage: Holger Brüns

 

Helmuth Schönauer, 03-02-2016

Bibliographie

AutorIn

Holger Brüns

Buchtitel

Das Oderbruchbuch. Aufzeichnungen aus einem ereignislosen Leben

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Verbrecher Verlag

Illustration

Django Knoth

Seitenzahl

139

Preis in EUR

14,00

ISBN

978-3-95732-115-2

Kurzbiographie AutorIn

Holger Brüns ist Dramaturg und Theatermacher in Berlin.