Ingelore Ebberfeld, Der sexuelle Supergau

„Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass Sexuelles überall präsent ist, dass wir gelernt haben, es zu übersehen. Ironischerweise sei Pornographie durch die blanke Allgegenwart praktisch unsichtbar geworden, schreibt die Soziologin Gail Dines. Recht hat sie. Gleiches gilt allemal für das Sexuelle, das uns täglich rund um die Uhr begegnet.“ (8)

Wie stark sich das Sexuelle im letzten Jahrzehnt in der Erlebniswelt unseres Alltags ausbreiten konnte, macht Ingelore Ebbersfeld an zahlreichen Bereichen des öffentlichen Lebens anschaulich, sei es in der Fernseh-, Kino- oder Musikwelt, sei es auf der Theaterbühne oder auf Fotos. Aber auch die Vorstellungen vom eigenen Körper sowie von der Normalität sexueller Praktiken haben sich im Laufe der Jahre massiv geändert. All das hat massive gesellschaftliche Auswirkungen, was in einem veränderten Schamempfinden und einer Verrohung der Sprache zum Ausdruck kommt.

Zu Beginn wird am Beispiel der Krimiserie „Tatort“ veranschaulicht, wie stark sich selbst die Darstellungsweise in einem Familienformat der Hauptsendezeit im Laufe der Jahre verändert hat.

Sex am Tatort war beim Start der Fernsehkriminalreihe 1970 gleich null. Heute ist er zur Normalität geworden. Mancherorts werden Wetten abgeschlossen, wann die erste Sexszene kommt, nach fünf, zehn oder mehr als zwanzig Minuten. (16)

Aber auch wenn Sexdarstellungen in fast keinen Filmen mehr fehlen dürfen, erscheinen sie noch harmlos im Vergleich Darstellungen im Theater oder Musiktexten, wie die Autorin am Beispiel von Texten aus der deutschen Rapper-Szene aufzeigt, in denen pornographische Gewaltverherrlichung und sprachliche Erniedrigung von Frauen wie selbstverständlich erscheinen.

Ein weiterer Themenbereich setzt sich mit dem veränderten Sexualverständnis und –verhalten auseinander. Durch die starke Verbreitung der Pornographie im Internet, werden dort gezeigte Sexualpraktiken, die in der Vergangenheit verpönt waren, heute von vielen Jugendlichen heute als selbstverständlich betrachtet. Der gleiche Einfluss gilt für die Vorstellung, wie Männer oder Frauen aussehen sollten, sei es die Schambehaarung oder die Größe des weiblichen Busens und Hinterns. So wird auch der Einsatz von Sexspielzeugen zunehmend als selbstverständlich betrachtet, vor allem seit das Internet, die Möglichkeit der anonymen Bestellung ermöglicht hat.

Besonders drastisch wird die Darstellung, wenn es in den Bereich der Kindersexualisierung und schließlich der Pornographie geht. Als erstaunliches Kennzeichen, wie sehr die Pornographie in der Mitte unserer Gesellschaft gelandet ist, nennt Ebberfeld den Umstand, dass Pornodarstellerinnen heute als große Stars in Talkshows eingeladen werden, mit der Gewissheit, dass die Einschaltquoten damit gesteigert werden können.

Was bei dieser Entwicklung auf der Strecke bleibt, sind die Kinder, die sich den permanenten sexuellen Anspielungen, Darstellungen sowie der zunehmend verrohten Sprache nicht entziehen können. Was früher als pornographisch galt, gilt heute allgemein schon als normal.

„Der sexuelle Supergau“ ist eine Bestandsaufnahme darüber, wie sehr das "Sexuelle" in alle Bereiche unseres Alltags vorgedrungen ist. Mit einer Überfülle an Beispielen aus allen Bereichen der Öffentlichkeit, der Medien und des Internets gelingt es Ingelore Ebberfeld das Ausmaß und die Qualität dieser gesellschaftliche Entwicklung anschaulich zu machen. Die zum Teil erschütternden Texte und Bildmaterialien machen das überaus informative Sachbuch nur für erwachsene Leserinnen und Leser empfehlenswert.

Ingelore Ebberfeld, Der sexuelle Supergau. Wo bleiben Lust, Scham und Sittlichkeit? Mit zahlr. Abb.
Frankfurt a. Main: Westend Verlag 2015, 416 Seiten, 23,70 €, ISBN 978-3-86489-103-8

 

Weiterführende Links:
Westend Verlag: Ingelore Ebberfeld, Der sexuelle Supergau
Wikipedia: Ingelore Ebberfeld

 

Andreas Markt-Huter, 12-12-2016

Bibliographie

AutorIn

Ingelore Ebberfeld

Buchtitel

Der sexuelle Supergau. Wo bleiben Lust, Scham und Sittlichkeit?

Erscheinungsort

Frankfurt a. Main

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Westend Verlag

Seitenzahl

416

Preis in EUR

23,70

ISBN

978-3-86489-103-8

Kurzbiographie AutorIn

Die renommierte Sexualwissenschaftlerin und Kulturanthropologin Ingelore Ebberfeld publizierte zahlreiche Bücher zum Thema Sexualität, darunter „Botenstoffe der Liebe“ oder „Blondinen bevorzugt – Wie Frauen Männer verführen“. Sie lebt als freie Autorin in Bremen.