Julia Kissina, Elephantinas Moskauer Jahre

In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden die letzten Jahre des Imperiums als „Moskauer Jahre“ bezeichnet, damit kann man zeitgenössisch präzise sein und dennoch die Gefühlsdistanz zur alten Mutter Hammer-Sichel kundtun.

Julia Kissina schickt ihre Heldin Elephantina als angehende Künstlerin von Kiew in die Hauptstadt Moskau, wo sich im halboffiziösen Untergrund eine geradezu phantastische Künstlerszene entwickelt hat. Elephantina klingt ja selbst schon wie eine Heldin aus einer angerauchten Gegend, ihr Geliebter ist Tomaterich. So wie sich die Helden der Revolution Künstlernamen wie Lenin oder Stalin gegeben haben, benützen jetzt auch die Künstler ihre Kampfnamen der Phantasie.

Zu Hause in Kiew ist es der angehenden Künstlerin zu eng geworden, nach einem Spaziergang im oberirdischen Permafrost sie fest:

Wir lebten nicht unser Leben, sondern das Leben der Toten aus den Zwanzigerjahren, die längst verwest und vermodert waren und trotzdem weiterdiskutierten. (21)

Unter dem Vorwand, eine Aufnahmeprüfung zu absolvieren und Zukunft zu studieren, schlängelt sich Elephantina durch Moskau und kommt sofort mit der Künstlerszene in Kontakt. Beim Diskutieren bleibt kein Stein auf dem anderen, die offizielle Kultur ist vergreist und veraltet und ist dem ungestümen Ansturm der Dichterinnen, Maler und Performance-Gurus nicht gewachsen. Zudem fließt reichlich Alkohol und an manchen Tagen bahnt sich eine Lava aus Boehme ihren Weg durch das Grau des Alltags. Höhepunkt ist eine Begegnung mit Alan Ginsberg, der als Überwinder des Kapitalismus gilt, in der Hauptsache aber mit Frauen und Drogen beschäftigt ist.

„Die Seele ist das primäre Geschlechtsorgan“, heißt so eine Parole, mit der man sich durch das Moskau jener Jahre schleppt. (141) Diese Sequenzen sind jeweils verbunden mit der aktuellen Weltlage rund um 1983. Reagan nennt Russland das Reich des Bösen und es ist nicht klar, wer nun bekifft ist. Selbstverständlich kümmert sich auch der KGB noch völlig unkalkulierbar um seine Schützlinge, aber seine Verhöre haben schon etwas von einem poetischen Akt.

Elephantina wird von diesen Moskauer Jahren vollends inspiriert, an manchen Tagen fühlt sich sie vor dem Schreiben wie ein Jagdhund, der in den frischen Wald darf.

Nach der Rückkehr ins mittlerweile selbständige Kiew gibt die Heldin den poetischen Wunsch auf, eine ewige Jungfrau zu bleiben. Sie heiratet ihre Tomatensoße und wohnt beim Pfeffer, langsam kommt ihr alles wie ein Leben im Museum vor. (218) Überhaupt scheint diese Epoche der sowjetischen Endzeit etwas Eingefrorenes zu haben, vielleicht ist es aber auch nur die Erkenntnis, „dass sich in der Vergangenheit die Zeit nicht bewegt“. - Ein explosiver Künstlerroman gezähmt durch vorsichtige Erinnerung.

Julia Kissina, Elephantinas Moskauer Jahre. Roman. A. d. Russ. von Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova. [Orig.: Elefantina ili Korablekrusencija Dostoevceva, Moskau 2015]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, 233 Seiten, 23,60 €, ISBN 978-3-518-42532-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Julia Kissina, Elephantinas Moskauer Jahre
Wikipedia: Julia Kissina

 

Helmuth Schönauer, 06-06-2016

Bibliographie

AutorIn

Julia Kissina

Buchtitel

Elephantinas Moskauer Jahre

Originaltitel

Elefantina ili Korablekrusencija Dostoevceva

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Ingolf Hoppmann / Olga Kouvchinnikov

Seitenzahl

233

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-518-42532-9

Kurzbiographie AutorIn

Julia Kissina, geb. 1966 in Kiew, lebt in Berlin.