Juri Andruchowytsch, Kleines Lexikon intimer Städte

Städte sind mehr oder weniger fixe Haken der Geschichte, an denen man die eigene Arbeit, die Träume und Abenteuer einhängen kann.

Juri Andruchowytsch führt seit jeher ein literarisches Leben, das sich zwischendurch in Lesereisen, Romanen und Projekten ausformt.
Daraus entsteht wie von selbst ein Netz aus Erlebnisknoten, die von aufgesuchten Städten zusammengehalten werden. Eine freie Erzählform ergibt sich dabei, wenn man die Städte zu einem Lexikon zusammenfügt.

Bereits die Auswahl der Sprache ergibt eine völlig andere Geschichte, denn das ukrainische Alphabet reagiert anders als das deutsche. Aus dem Pool von Städten der Originalausgabe 2011 hat der Autor eine Sammlung nach dem deutschen Alphabet gemacht, bei dieser Gelegenheit sind auch Prophezeiungen von früher als Tatsachenergänzung umgeschrieben worden. Vor allem die Stadt Kiew hat so eine neue Fassade bekommen, zerkratzt vom Maidan-Aufstand und fadenscheiniger als je zuvor.

Manche der 39 Städte verdanken ihre Aufnahme in den intimen Roman ihrer raren Stellung im Alphabet. Im schweizerischen Zug ist eine Lesung im Gefängnis geplant, weil es aber in der Nacht davor einen Ausbruch gibt, muss die Lesung abgesagt werden. Ähnlich strukturiert ist Pripyat, wo eine Nacht zuvor der Reaktor von Tschernobyl explodiert, weshalb am nächsten Tag das Leben in der ganzen Stadt abgesagt wird. Im Lexikon wird die Stadt wegen der Strahlen X genannt, sie hat übrigens wie Pompeji ein historisch definiertes Enddatum.

Im Städtchen Drohobytsch ist einst die größte österreichische Raffinerie gestanden, unter den Nazis hat es als Ghetto-Stadt traurige Berühmtheit erlangt.
Überhaupt kommen Städte oft in das Mahlwerk der Geschichte und werden zerrieben. Noch ziemlich zeitnah ist die serbische Stadt Novi Sad, eine völlig westlich denkende Stadt, von der NATO bombardiert worden, weil sie zu viele Brücken hat.

Oft sind es schwere persönliche Zacken in der Lebenskurve, die eine Stadt wichtig werden lassen, wie etwa Hajsyn, wo Andruchowytsch einen Teil des Militärdienstes ableisten muss.

Manchmal sind es gute Eigenschaften, wie die Aussicht von einem Berg, die Städten wie Lemberg oder Graz zu einer Aufnahme ins Lexikon der Intimität verhelfen, der Stadt Odessa verhilft ein Landesteg zur Unsterblichkeit, hier hat einmal ein Schiff voller Dichter angelegt, welche freiwillig die westliche Verfasstheit der Ukraine besungen haben.

Der Literaturbetrieb treibt Dichter oft an seltsame Orte, nach Toronto muss der Autor fliegen, um auf dem Hinflug ein Arschloch neben sich sitzen zu haben, ganz Kiew setzt sich an manchen Tagen aus schlecht verkleideten Bauern zusammen, die in den Hotels eine gigantische Prostitution zusammenhalten.

Über die edle Stadt Uschhorod, die vom Norden aus gesehen hinter den Karpaten liegt, gibt es die schöne Erkenntnis auszugießen: „Alles was trennen kann, kann auch verbinden.“

Das Städtelexikon erweist sich als offene Erzählform, die selbst intimsten Spielregeln gerecht wird.

Juri Andruchowytsch, Kleines Lexikon intimer Städte. A. d. Ukrain. von Sabine Stöhr [Orig.: Leksykon intymnych mist; Kiew 2011]
Berlin: Insel Verlag 2016, 416 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-458-17679-4

 

Weiterführende Links:
Insel Verlag: Juri Andruchowytsch, Kleines Lexikon intimer Städte
Wikipedia: Juri Andruchowytsch

 

Helmuth Schönauer, 24-10-2016

Bibliographie

AutorIn

Juri Andruchowytsch

Buchtitel

Kleines Lexikon intimer Städte

Originaltitel

Leksykon intymnych mist

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Insel Verlag

Übersetzung

Sabine Stöhr

Seitenzahl

416

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-458-17679-4

Kurzbiographie AutorIn

Juri Andruchowytsch, geb. 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, lebt in Iwano-Frankiwsk.