Katharina Winkler, Blauschmuck

In der archaischen Überlebensliteratur ist nie ein Satz zu viel vorhanden, deshalb kann man auch jeden Satz als Lebensprogramm anerkennen.

Katharina Winkler schafft etwas schier Unmögliches, sie überlässt ihre Heldin einer brutalen Welt voller Gewalt, die sich nur aushalten lässt, wenn die Schläge wie Sprichwörter inhaliert und devot nachgebetet werden.

Die Welt im entlegenen Kurdengebiet ist dürr und blutig. Die Frauen werden von den Männern durchgehend geschlagen, ihre Verwundungen zeigen sie anderntags verschämt untereinander her und nennen die blauen Flecken Blauschmuck. Auch sonst sind die Spielregeln scheinbar Naturgesetzen nachempfunden, in der Dunkelheit etwa muss man aufpassen, denn davon wird man schwanger. (21)

Filiz ist zehn Jahre alt, als sich an der Stalltüre ihr Leben verändert. Sie ist jetzt ihrem Yunus versprochen, aus eigenem Antrieb, denn sie will nicht vom Vater verheiratet werden. Yunus wird zu einem Gott, der jeden Atemzug bestimmt, als sie schließlich zur Hochzeit über die Schwelle seines Hauses tritt, tut sich dahinter satt des Paradieses die Hölle auf.

Im neuen Haushalt sitzt die Spinne, die als Schwiegermutter wie in einem schlechten Witz das Fremde und Furchtbare verkörpert. Die Hochzeitsnacht wird von der Verwandtschaft argwöhnisch überwacht und alle reden von dieser blöden Jungfernschaft, die irgendwo zwischen den Beinen sitzt und hergezeigt werden muss. Von der ersten Nacht an gibt es Blauschmuck en masse. Yunus wird zu einem Tier, das stößt und stößt, bis drei Kinder da sind.

Militäreinsatz des Mannes, wilde Spinne, hungernde Kinder: Filiz versucht, alles auszuhalten. Sogar als sich das dritte Kind nicht abtreiben lässt, nimmt sie es geduldig hin und tauscht die Abtreibungssumme gegen einen Kühlschrank. In kleinen Schüben nämlich versucht Filiz auszubrechen, landet zuerst in der Hauptstadt und kommt schließlich nach Österreich. Das Leben im Land, wo alle Jeans tragen und frei sind, gleicht für Filiz immer noch jenem Blauschmuckdasein, dem sie gerade zu entfliehen versucht hat. Freilich greift in Österreich der erste Arzt ein, als er die blauen Flecken sieht. Yunus wird abgeschoben, Filiz verliert allmählich den Blauschmuck.

In einem Nachspann wird der Innensicht der Heldin auf einer Seite trockener Beamtensprache der Beweis der Befreiung gegenübergestellt. Das Schicksal der Kinder erweist sich als Erfolgsgeschichte, alle erhalten eine Ausbildung und finden sich in der Blauschmuck-losen Welt bestens zurecht. Der abgeschobene Yunus soll zu Hause noch einmal geheiratet haben, seine drei Kinder nennt er wieder nach den ersten, die er an die freie Welt verloren hat.

Katharina Winkler erzählt in einem straffen inneren Monolog, worin die Sätze als Schmerzmittel herhalten müssen und dennoch erst den Schmerz verursachen, weil sie die Dinge beim Namen nennen. Manchmal sind es nur kurze Seitenblicke auf den Alltag, die so etwas wie einen Zeitfluss vermitteln. Sonst funktioniert alles wie in einem Tierfilm Marke Universum: Rammeln, schlagen, bluten, am Abend, in der Nacht. - Diese Innensicht einer geschlagenen Seele ist beim Lesen kaum auszuhalten und dennoch brutal erhellend.

Katharina Winkler, Blauschmuck. Roman
Berlin: Suhrkamp 2016, 197 Seiten, 19,50 €, ISBN 978-3-518-42510-7

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Katharina Winkler, Blauschmuck
Wikipedia: Katharina Winkler

 

Helmuth Schönauer, 10-06-2016

Bibliographie

AutorIn

Katharina Winkler

Buchtitel

Blauschmuck

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

197

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-518-42510-7

Kurzbiographie AutorIn

Katharina Winkler, geb.1979 in Wien, lebt in Berlin.