Natalka Sniadanko, Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen

Während Politiker nie wissen, was die Dinge des Alltags so kosten, sind die Alltagsprofis auf den Cent genau informiert und zahlen nur das Nötigste, was auch meist zu viel ist.

Natalka Sniadanko erzählt von den dürren Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, wenn man als Arbeitsmigrantin unterwegs sein muss. Hauptfigur ist Chrystyna, die mit ihrer Freundin Solomija von Lemberg nach Berlin übersiedelt ist, der Arbeit wegen.

Gleich zu Beginn bleibt Chrystiya des Herz stehen, weil sie ihre Freundin als Unfallopfer in der Zeitung liest. Sofort setzt die Erinnerung ein und erzählt uns, wie es zu diesem Berlin-Aufenthalt gekommen ist.

Chrystyna und Solomija sind Musiklehrerinnen in Lemberg, sie haben alles versucht, um sich durchs Leben zu schlagen, zwischendurch sind sie selber ein Liebespaar geworden, dann gibt es wieder Männerbekanntschaften, wenn sie am Weg liegen.

Im ersten Anlauf gelingt es nur Chrystyna, ein Visum zu ergattern, ihre Freundin muss warten. Das Reisen in peripheren Landstrichen ist ein bürokratisches Abenteuer. So gilt das Abteil als erste Klasse, wenn die Liege heruntergeklappt ist, bei hochgestellter Liege ist es die zweite Klasse. Mit solchen Tricks versuchen sich die niedrigen Bürokratie-Chargen ein Zubrot zu verdienen. Dagegen ist der Westen wirklich logisch, wenn auch nicht golden.

Eigentlich soll es nach Athen gehen, aber in Berlin wird die Heldin von Eva am Zebrastreifen niedergefahren, sie ist gottseidank lesbisch, so dass es gleich Wohnmöglichkeit und Arbeit gibt.

In der Folge lernt Chrystyna das Wirtschaftssystem von der Innenseite her kennen. In verschiedenen Haushalten wird sie als Putze angestellt, oft nur, damit man sieht, was man sich leisten kann. Der Kunstinteressierten Raumpflegerin zeigen sich vor allem die diversen Privatbibliotheken als wahre Schätze, allein die Aufstellungsordnung ist eine eigene Kultur.

Eva bucht zwischendurch auch Kunstreisen etwa nach Venedig oder Krakau, die vor allem zeigen sollen, wie man als lesbisches Paar die Kunst neu entdeckt.
Später gelingt es Eva und der Voraus-Gereisten, Solomija nach Berlin nachzuholen. Auch sie arbeitet nun in prekären Verhältnissen, erzählt aber ununterbrochen Geschichten aus Lemberg, die unlesbar sind. Für den Haymon-Verlag zählt offensichtlich das Layout mehr als die Lesbarkeit des Textes, weshalb das Publikum mit schwächeren Augen alles vergessen muss, was da im letzten Quartal im grauen Schmierdruck als Binnenerzählung in den Roman gequetscht worden ist.

Der Schluss ist, weil er ja keine Binnenerzählung ist, wieder lesbar. Eva und die Heldin werden ein Paar und gehen der Nachricht nach, wonach es mit Solomija einen Unfall gegeben haben soll. Diese steht freilich quietschvergnügt in der Küche, denn seit die Nachrichten leicht zugänglich sind, ist ihnen nicht mehr zu trauen.

Ein ziemlich glaubwürdig konstruierter Roman, der die Themen Ukraine, Arbeitsmigration, Berlin, prekäre Verhältnisse, Lesben gut auf die Reihe kriegt. Vor allem die ukrainischen Details sind überraschend, etwa, dass Lemberg die eigentliche Ukraine ist, während Kiew immer den russischen Touch hat.

Natalka Sniadanko, Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen. Roman, a. d. Ukrain. von Lydia Nagel. [Orig.: Charkiv 2013]
Innsbruck: Haymon Verlag 2016, 343 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-7099-7229-8

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Natalka Sniadanko, Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen
Wikipedia: Natalka Sniadanko

 

Helmuth Schönauer, 26-03-2016

Bibliographie

AutorIn

Natalka Sniadanko

Buchtitel

Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen

Originaltitel

Charkiv

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Lydia Nagel

Seitenzahl

343

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-7229-8

Kurzbiographie AutorIn

Natalka Sniadanko, geb. 1973 in Lviv, lebt nach Jahren in Freiburg/Br. wieder in Lviv.