Peter Handke, Die Obstdiebin

Kaum Handlung, kaum Thesen, kaum Genre, alles richtig, kaum etwas falsch.
Peter Handke kommt wie die meisten Schriftsteller, die denkend gealtert sind, ohne den Schnickschnack der Schreibschulen und Germanistik aus. Zum 75sten Geburtstag hat er sich die Kärntner Verfassung umschreiben lassen, damit er Anspruch auf das goldene Keks hat. Sich selbst hat er die Obstdiebin vom Leib und auf den Leib geschrieben, und nur, wer alle bisherigen Lesetipps hinter sich lässt, kommt an die Obstdiebin heran.

Die Obstdiebin kann man nicht falsch lesen, weil alles, was man auf diesen fünfhundert Seiten entdeckt, einfach schön, ungewöhnlich und handkisch ist. Im Eisenbahnwesen gibt es diese Langsam-Fahrstellen, wenn die Gleise schwach sind, bei Handke gibt es die Langsam-Lesestellen, wenn der Text stark ist. Die Obstdiebin ist eine einzige Langsamfahrstrecke für die Augen.

Der Beginn ist vielleicht Fontane-mäßig, ein Icherzähler hat es sich im Vorort-Streifen von Paris schön eingerichtet, die edle Gasse teilt er sich mit dem Nachbarn, der Garten ist schön und dann kommt endlich ein Stich-Tag, wenn er barfuß in eine Biene tritt. Das Konzept des Alltags besteht aus ständigem Hinschauen, Wegschauen, Umschauen.

Im Gehen, auf dem Weg zum Gartentor, kehrte ich um und stieg hinab in den Keller. (S. 29)

Da tritt der Erzähler eine Reise ins Landesinnere an, indem er mit der Bahn Richtung Norden fährt in eine Gegend, die schon einmal als Niemandsbucht beschrieben worden ist. Zuvor hat ihm die Obstdiebin noch eine Pflanze aus dem Garten herausgezwickt, eine Art Mundraub für die Schönheit und sicher nicht strafbar, aber doch eine Abweichung vom üblichen Gartenrecht.

Nach allerhand Plätzen, Straßenmusikanten, Pendlern mit der Erhabenheit des Arbeitsalltags fährt der Erzähler hinaus ins Land. Die Bahn wird immer dünn-besetzter und am Schluss schiffen der Lokführer und sein Sohn ins Gelände, dem die Gleise ausgegangen sind.

Im Zug glaubt er die Obstdiebin zu sehen, aber es könnte eine Täuschung sein. Er getraut sich nicht, genauere Umstände abzufragen, denn das ganze hier soll kein Krimi sein, in dem ununterbrochen recherchiert wird. (135)

Später wandern beide ins Gelände und der Erzähler übergibt die Erzählung der Obstdiebin, die durchklingen lässt, dass sie immer unterwegs ist und in jedem Land anders genannt wird. Ganz heiß werden die Verehrer, wenn sie auf Russisch macht und sich Alesia nennt.

Was eine Obstdiebin alles entdecken kann! (175)

Da ist auch der Erzähler in der Versenkung ein Bewunderer geworden. Nach drei Tagen in der Botanik gibt es ein ausgiebiges Fest, bei dem alle wie in einem Gemälde aufgestellt sind und in eine andere Zeit wechseln. Jemand stellt fest, dass Wolfram von Eschenbach so gültig ist, weil er unübersetzbar ist. Und da fällt einem wieder die Stelle am Beginn des Romans ein, als sich im „Mittelalterbuch“ (Willehalm) eine Frau beide Hände abhackt, um so entstellt für die Männer untauglich zu sein. Und jetzt?

Die helle Sommersträhne im dunklen Haar: seltsam. Oder auch nicht? Nein, seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam. (559)

Peter Handke, Die Obstdiebin. Oder einfache Fahrt ins Landesinnere
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 538 Seiten, 35,00 €, ISBN 978-3-518-42757-6

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Peter Handke, Die Obstdiebin
Wikipedia: Peter Handke

 

Helmuth Schönauer, 11-02-2018

Bibliographie

AutorIn

Peter Handke

Buchtitel

Die Obstdiebin. Oder einfache Fahrt ins Landesinnere

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

538

Preis in EUR

35,00

ISBN

978-3-518-42757-6

Kurzbiographie AutorIn

Peter Handke, geb. 1942 in Griffen, lebt in der Nähe von Paris.