Peter Steiner, Wenn mein Vater Polnisch spricht

Geologen sind seltsamerweise die idealen Verbündeten, wenn es um das sorgfältige Darstellen von seelischen Verwerfungen geht. Mit der gleichen Zuneigung, mit der sie sich um die Morphologie von „Mutter Erde“ kümmern, lassen sie sich fallweise auch auf die Vorgänge von Erinnerung, Zeitgeschichte, Reisen und Lebensausblick ein.

Peter Steiner schickt seinen Ich-Erzähler 1981 zu einem Geologen-Kongress nach Irkutsk. Das Reisetagebuch ist die Engstelle einer biologischen Sanduhr, bei der es ein Vorher und ein Nachher gibt.

Auf der dienstlichen Ebene geht es um Geologie, Erdzeitalter, seltene Erden und große Bewegungen erstarrter Erdmassen. Der Ich-Erzähler bedient sich dabei durchaus sagenhafter Elemente, wenn er augenzwinkernd erzählt, dass der Baikalsee ursprünglich einen anderen Abfluss im Auge hatte, dann aber durch Eifersüchteleien diverser Gebirge sich für den jetzigen Abfluss entschieden hat.

Und dieser ist von Menschenhand seinerseits wieder umgemodelt und gezähmt worden. Der Beruf des Geologen ist der internationalste, den man sich ausmalen kann. Nicht nur, dass sich Gebirge, Flüsse und Seenplatten nie an Grenzen halten, ihre Erscheinungen sind so weitläufig, dass man ihnen national nicht begegnen kann.

Dieser weitläufige Beruf ist vielleicht die Antwort auf die Arbeitslosigkeit des Vaters, der zuerst im Ständestaat als Croupier einer Kleinstadt gearbeitet hat, arbeitslos geworden ist und später in Warschau unter den Nazis als Croupier gearbeitet hat.

Anlässlich der Reise nach Irkutsk durchquert der Erzähler dieses Polen, das einst völlig vernichtet worden ist, er wundert sich, warum der Vater „Polnisch spricht, ohne es zu verlauten.“ (227) Aber das bloße Durchreisen lässt die Geschichte bald wieder hinter sich, die Weite Sibiriens, die geheimnisvolle Infrastruktur der Sowjetunion, die Erotik der Taiga nehmen den Erzähler wie auf einer Abenteuerreise in Anspruch. „Ihr Schamhaar war so dicht, dass es sich kaum durchstoßen ließ.“

Der Kongress in Irkutsk ist bald vorbei, auf der Rückreise schlägt die Bürokratie gnadenlos zu, der Vorwurf einer illegalen Reise durch die Sowjetunion steht im Raum, weil irgendwer eine falsche Rechnung ausgestellt hat.

Nach dieser Läuterungsreise durch die Weite des Jahrhunderts möchte sich der Erzähler noch erzählen lassen, was wirklich in Polen losgewesen ist. Aber der Vater stirbt, der Erzähler drückt ihm einen Kuss auf die Stirn und sagt: „Gut gemacht!“ (237)

Nach dreißig Jahren, quasi in der Gegenwart, wird dann ein Funken Wahrheit wie ein Findling an die Oberfläche gespült. In Lemberg berichten die letzten Zeitzeugen vom Warschauer Ghetto, und dem Erzähler fällt es wie Schuppen von den Augen. Der Croupier von Warschau ist ein SS-Mann gewesen und hat mit den Häftlingen Roulette auf Leben und Tod gespielt.

Eine Frau in einem Vorstadtgarten Lembergs überreicht dem Geologen eine frisch herausgezogene Knolle, jetzt muss er nur noch die passende Erde suchen. - Das weite Land Schnitzlers als morphologische Unendlichkeit, eine berührende Geo-Biographie!

Peter Steiner, Wenn mein Vater Polnisch spricht. Roman
Innsbruck: Edition Laurin 2016, 248 Seiten, 21,90 €, ISBN 978-3-902866-38-7

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Peter Steiner, Wenn mein Vater Polnisch spricht
Homepage: Peter Steiner

 

Helmuth Schönauer, 27-04-2016

Bibliographie

AutorIn

Peter Steiner

Buchtitel

Wenn mein Vater Polnisch spricht

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

248

Preis in EUR

21,90

ISBN

978-3-902866-38-7

Kurzbiographie AutorIn

Peter Steiner, geb. 1937 in Baden bei Wien, lebt in Baden bei Wien.