Renate Aichinger, WELT.ALL.TAG

Manche Begriffe lassen sich neu generieren, indem man sie in ihre Wortteile zerlegt wie die Glücksschweinrädchen in einem Glücksspielksautomaten. Die Wortteile sausen also als Zufallspartikel vor dem Auge ab und ergeben neue Begriffskonstellationen.

Renate Aichinger hat mit ihren gut zwanzig Geschichten und Gedichten die Welt atomisiert und aufgespalten in WELT.ALL.TAG. Die Protagonisten erleben dabei ihre Wahrnehmung als Fragmente eines Ganzen, das ihnen unerschlossen bleibt. Dennoch versuchen sie mit diesen kleinen Wahrnehmungen zurecht zu kommen und sich darin einzurichten wie in einer großen Welt.

So heißt der Schlüsselbegriff für das Leben einer Heldin „schubsen“. Diese scheinbar liebevolle Bewegung, mit der man einem Kind eine Richtung vorgibt und ihm dabei scheinbar Liebkosung angedeihen lässt, erweist sich als fatales Lebensprogramm. So jemand wird nämlich ein ganzes Leben geschubst, auch wenn dabei das Gefühl einer guten Lenkung durch die verstorbene Oma nicht unangenehm ist.

Unter Abseilen lässt sich neben dem gelungenen Überwinden von Höhenunterschieden auch das Abhauen oder Verschwinden verstehen. Frau Berta sitzt auf ihrer Sandler-Bank beim Bier und lässt das Leben in Flashes vorüberziehen, eine Mischung aus Clownerie und Hanswurst, der in Demenz verfallen ist. Offensichtlich hat sich das Leben von den beiden Helden abgeseilt.

Der Müllmann Klaus kommt erledigt von der Arbeit nach Hause und schaut sich den Müll, den er tagsüber eingesammelt hat, noch einmal im Fernsehen an. Dabei trinkt und isst er zusätzlich Müll, bis die Realität vollkommen vermüllt ist.

In der Erzählung „Trockeneis“ säuft sich eine Frau in die Jugend zurück, unter dem Titel „Eierschalentraum“ legt eine Erzählerin ihre Glücksvorstellungen dar und bestellt dabei ein umfangreiches Hochzeitsarrangement. An anderer Stelle schafft es eine Frau nach langen Überlegungen zu einem „fucking-guten Gefühl“ (93).

Und immer wieder zerlegt sich die Welt, sei es dass daraus Gedichte werden, die in einzelnen Wörtern eine harte Regenstimmung in die Umgebung trommeln, sei es dass sich gängige Begriffe auflösen in „Ost.Block.Ade“ oder „War-tschau“. (115) Eine Heldin fasst ihr Dilemma zusammen:

Nein, du weißt nicht, wer du bist. Weil du ja ständig liest, wie du bist. In den Sonntagsbeilagen. (148)

Renate Aichinger entwickelt viel Sympathie für jene Figuren, die im großen globalen Getriebe  nicht mehr richtig funktionieren und ausgemahlen werden wie schlechtes Getreide. Die Schlüsselwörter „Raffen. Kaufen. Rausch.“ (47) funktionieren nur für wenige Augenblicke und fressen anschließend die Helden auf. - Eine durchgehende Kritik an den gängigen Lebensformen mit viel Geduld für jene fragmentierten Individuen, die dabei übrig bleiben.

Renate Aichinger, WELT.ALL.TAG.
Innsbruck: Edition Laurin 2012. 152 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-902866-00-4.

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Renate Aichinger, WELT.ALL.TAG
Wikipedia: Renate Aichinger

 

Helmuth Schönauer, 26-04-2012

Bibliographie

AutorIn

Renate Aichinger

Buchtitel

WELT.ALL.TAG

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

152

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-902866-00-4

Kurzbiographie AutorIn

Renate Aichinger, geb. 1976 in Salzburg, lebt in Wien.