Varujan Vosganian, Spiel der hundert Blätter

So ein Blatt begleitet die Menschen durch alle Lebenslagen, es dient dem Kind zum Spielen, ist nützlich beim Aufschreiben von Geschichten, lässt den Spieler auftrumpfen und fällt schließlich im Herbst sachte am liebsten auf ein Grab.

Varujan Vosganian beschreibt anhand des Spiels der hundert Blätter vier verschiedene Schicksale, die auch als Epochen eines Staatsgebildes gelesen werden können. Vier Buben werden im Herbst immer euphorisch, da sind die Alleen voller Blätter und man kann dieses Einmal-Berühren-Spiel machen, wobei man nur einmal auf ein Blatt hüpfen darf, ehe man auf das nächste springt. Am Ende der Allee sind dann alle Sieger.

Quasi als Gegenstück zur hüpfenden Kindheit studieren Tili, Jenica, Maca, Luca Mathematik, weil sich darin Spiel und Gesetzmäßigkeit ideal vereinen. Eine Zeitlang arbeiten sie in einer Fabrik, doch dann geht alles drunter und drüber.

Nach zwanzig Jahren ist alles anders geworden, die Fabrik ist stillgelegt, Tili arbeitet bei einem Puppenmacher und ist für die Namensgebung und die Aura der Puppen zuständig, er betreibt ein Marketing, das mit alten Formeln und Bräuchen arbeitet.

Jenica ist formal in einem Lotto-Laden angestellt, als Spieltheoretiker rechnet er aber für die Kunden die Wahrscheinlichkeit des Gewinnes aus und ist jedes Mal völlig fertig, wenn die Kundschaft dennoch mit dem letzten Geld ihr Glück versuchen will. Aufklärung und Meta-Wissen nützen nichts gegen den Aberglauben des Volkes.

Maca fährt auf einer Maschine durch die Gegend, um irgendetwas aufzureißen oder wenigstens die Mitmenschen mit dem Motorrad zu ärgern. Freilich hat er sich aus der Kindheit die Ehrfurcht vor den Blättern bewahrt, er schont sie, um nicht mit dem Vorderrad wegzurutschen, außerdem wäre der Herbst kaputt, wenn man seine Blätter zerstörte.

Und von Luca hat man schon längst nichts mehr gehört. Er ist von der Securitate am Donau-Ufer erschossen worden, als er seine Träume außerhalb des Landes umsetzen wollte.

Die Berufe und Lebenskurven der Vier beschreiben besser den Zustand eines Landes, als es Bruttosozialprodukt und Akademikerquote könnten. Diese vier Helden repräsentieren vier Windrichtungen, in die jemand gleichzeitig gehen muss, will er etwas aus sich machen.

Willst du die Welt kennenlernen und erobern, musst du sie überrumpeln! (40)

In den Roman sind zwei zeitlose Erzählungen wie Volksmärchen eingebettet. Einmal steigt ein Junge tatsächlich in den silbernen Zug, der täglich spätabends durch den Ort rast, um in einer großen Stadt oder gar am Eismeer zu enden. Der Junge wird nach einer Station wieder aus dem Zug geworfen, aber er hat das tun müssen, um erwachsen zu werden und zu sehen, wie weit Träume fahren. In der Geschichte vom Tod hingegen malt ein Maler an der Staffelei gegen den Tod an, bis sich Leben und Tod im Bild vereinen. (121)

Als der Lottomann stirbt, steht es zwischen den Lebenden und Toten zwei zu zwei, fassen die Überlebenden die Geschichte zusammen. Jetzt haben sie bloß noch die Wahl zwischen Langeweile und Traurigkeit. - Spiel der hundert Blätter erzählt wie alle wichtigen Spiele alles über den sogenannten Sinn des Lebens.

Varujan Vosganian, Spiel der hundert Blätter. Roman, a. d. Rumän. v. Ernest Wichner. [Orig.: Jocul celor o suta de frunze si alte povestiri, Bukarest 2013]
Wien: Zsolnay Verlag 2016, 224 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-552-05800-2

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Varujan Vosganian, Spiel der hundert Blätter
Wikipedia: Varujan Vosganian

 

Helmuth Schönauer, 09-10-2016

Bibliographie

AutorIn

Varujan Vosganian

Buchtitel

Spiel der hundert Blätter. Roman

Originaltitel

Jocul celor o suta de frunze si alte povestiri

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Zsolnay Verlag

Übersetzung

Ernest Wichner

Seitenzahl

224

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-552-05800-2

Kurzbiographie AutorIn

Varujan Vosganian, geb. 1958 in Craiova, Kindheit in Focsani, ist rumänischer Wirtschaftsminister.<br />Ernest Wichner, geb. 1952 in Guttenbrunn / Banat, ist Leiter des Literaturhauses in Berlin.