Wolfgang Hermann, Die letzten Gesänge

Wie muss man kleine Begebenheiten, entlegene Landstriche, versteckte Stimmungen oder verlorengegangene Lebensentwürfe aufrüsten, dass man sie als Andeutung gerade noch erzählen kann?

Wolfgang Hermann treibt seine 35 Erzählungen an den Rand der Selbstauflösung, es sind wahrlich letzte Gesänge, wie es in der titelgebenden Geschichte heißt. Diese Kleinodien wirken auf den ersten Blick wie Zugaben zu einem anstrengenden Alltagswerk, diese Piecen tauchen in Verschnaufpausen auf, als Balkonstimmung, wenn in das abendliche Gelände geschaut wird, oder als Notiz eines Stadtplaners, wenn er die ersten Maßeinheiten in die Skizze einträgt.

„Es ist alles da“ heißt es programmatisch in der ersten Sequenz, wir streifen in Drohnenposition über die Siedlung, begutachten die Wohnsituation, differenzieren die einzelnen Lagen und empfinden das Kraftfeld der Stadt als angenehm. Wir, das sind vielleicht die Leser, die Wohnungsnutzer, die Investoren, die Chronisten. Es ist nicht nur alles da, in dieser Geschichte, es ist auch für jede und jeden etwas da.

„Die letzten Gesänge“ handeln wieder von einer Ansiedlung, die gerade einen Tag über die Runden gebracht hat. Auf der Fahrt durch eine verwürfelte Vorstadt tauchen noch die Schlammmassen der vergangenen Regentage auf, die Gesänge sind verstummt, die Reblagen am See abgeerntet.

Es herrscht eine Grauzone zwischen Niederschlag und abgeerntetem Feld. Dabei hat gerade ein fortschrittlicher Wind die Talschaft erreicht und eine neue Herrschaftsform ins Land geweht. Die Wirtschaft ist wegen des Ausverkaufs des Landes gut gestimmt, fast in Poesie vernarrt, das lyrische Ich ist ziemlich berührt von den letzten Gesängen, die von den Rebhängen niedergehen.

Im Positionspapier über „die Welt hinter Bregenz“ wimmelt es nur so von Konzepten, wie man einer ausgelegten Fläche erzählerisch beikommen könnte. „Nie war mir der Wald so dicht erschienen“ sagt der Erzähler noch ganz romantisch, da wird er auch schon in die Position der Postmoderne gedrängt:

Wir wanderten hinein ins weite Land der Erzählung. (27)

Das Erzählen selbst wird zu einer eigenständigen Welt, die man vage wie früher das Schlaraffenland jetzt hinter Bregenz verorten könnte.

Im „Nachtbild“ sitzt ein junger Mann dem Maler Modell, dieser Vorgang geht scheinbar ohne Bedeutung für die beiden zu Ende. Denn nach der Gemälde-Sitzung bricht der Maler mit seinem Freund auf, um mit Blicken in die Ferne die Welt neu zu vermessen. Dabei gibt der Freund des Malers in Spionage-Manier sein künstlerisches Geheimnis preis:

Ich interessiere mich vor allem für Informationen, die zu nichts dienen. (40)

Wolfgang Hermann erzählt in minimalistischer Weise ganze Weltkonzepte, Sehschulen, Aussteigerstrategien oder Studienzweige, denen man es nie und nimmer zutraute, dass sie sich in wenigen Sätzen abwickeln lassen. Aber wenn die Sätze wirklich sitzen, wenn die Protagonisten wirklich klug sind, wenn die Landschaft wirklich poetisch ist, dann genügen ein paar erzählerische Winke, um den angesprochenen Kosmos punktgenau fertig zu erzählen. – Hohe Erzählkunst.

Wolfgang Hermann, Die letzten Gesänge. Erzählungen
Innsbruck: Limbus 2015, 174 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-059-7

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Wolfgang Hermann, Die letzten Gesänge
Wikipedia: Wolfgang Hermann

 

Helmuth Schönauer, 15-10-2015

Bibliographie

AutorIn

Wolfgang Hermann

Buchtitel

Die letzten Gesänge

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

174

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-99039-059-7

Kurzbiographie AutorIn

Wolfgang Hermann, geb. 1961 in Bregenz, lebt in Dornbirn und Wien.