Björn Springorum, Der Ruf des Henkers

„»Es kümmert mich nicht, was sie in mir sehen, Edwards. Ich werde Ihnen jetzt einen Vorschlag unterbreiten.« Ich pausierte. »Nun, keinen Vorschlag, denn eine Wahl haben Sie nicht. Sie lassen das Mädchen frei und geben den Jungen in meine Obhut. Er wird fortan mein Lehrling sein.“ (24)

Der berüchtigte Henker William Calcraft, der seit nunmehr vierzig Jahren im Auftrag von Königin Viktoria sein grausames Amt verrichtet, trifft bei seiner Arbeit in Sheerness, einem kleinen Dorf in der Umgebung von London, auf den 14-jährigen Richard Winters. Als Calcraft eine junge Frau hinrichten soll, hält er diese für unschuldig und auch Richard verbürgt sich für seine Freundin Liz. Calcraft verschont das Leben des Mädchens und stellt im Gegenzug Richard als seinen Lehrling ein.

Richard merkt sehr bald, dass sein Meister ein eigenwilliger und verschlossener Mensch ist, der überall, wo er hinkommt, Furcht und Abscheu erweckt. Er erkennt aber auch, dass der Beruf des Henkers die nach Außen sichtbare Tätigkeit ist, der William Calcraft nachgeht. In Wahrheit liegt seine Aufgabe vor allem darin, Wechselbälger aufzuspüren und zu töten. Vor langer Zeit wurden die Alben von den Menschen verdrängt. Diese zogen sich in die Zwischenwelt zurück, wo sie warteten, bis die Zeit der Rache gekommen war, um den Menschen Wechselbälger unterzuschieben.

Als Calcraft der Ruf ereilt, in London Hinrichtungen durchzuführen, ist Richard von der Größe aber auch dem Schmutz und dem Chaos der Stadt fasziniert. In einer heruntergekommenen Gegend wohnen die beiden im Gasthaus The Golden Rose, wo Richard auf Rose, die Nichte des Wirtes trifft, die sich in ihn verliebt. Richard hängt jedoch immer noch seinen Gedanken an Liz nach, der er nach seiner Abreise unzählige Briefe geschrieben hat, ohne je eine Antwort zu erhalten.

Die Ankunft William Calcraft ist aber auch den Wechselbälgern nicht verborgen geblieben, die umgekehrt wieder versuchen ihrem Erzfeind aufzulauern und ihn zu vernichten. Als Richard mit Calcraft das Gefängnis und das Schafott erreicht, wo die Hinrichtungen stattfinden sollen, hört er plötzlich eine unheimliche Stimme seinen Namen flüstern. In einer Holzbude sieht er auf einer Puppenbühne sich selbst und seinen Meister.

„Er wird dich opfern.“ Wieder diese geisterhafte Stimme. „Er wird dich opfern, um sich zu retten.“ (120)

Zu allem Überfluss trifft Richard schließlich auf seine große Liebe Liz, die sich mit überaus zwielichtigen Gestalten umgeben hat und die von Richard wünscht, seinen Einfluss als Gehilfe des Henkers geltend zu machen und einen Freund vor dem Galgen zu bewahren. Er ahnt nicht, auf was er sich dabei einlässt.

Von der ersten Seite an hält „Der Ruf des Henkers“ seine Leserinnen und Leser in aufgeregter Spannung, kann doch hinter jeder Ecke ein grausamer und hinterlistiger Wechselbalg oder ein Alb auf der Lauer liegen. Aber auch das Umfeld, in dem sich die beiden Protagonisten bewegen könnte schrecklicher nicht sein. Die düsteren schmutzigen und dunklen Gassen von London sind durchdrungen von Verbrechen und Mord und auch sie selbst, tragen den Tod auf jedem Schritt mit sich.

Geschickt wechseln die Erzählperspektiven zwischen dem jugendlichen Gehilfen Richard und dem abgebrühten Henker Calcraft und eröffnen den Leserinnen und Lesern einen abgehobenen Einblick in ihr Denken und Handeln. Die eingestreuten Tagebucheintragungen von Rose bieten eine zusätzliche romantische Perspektive. Obwohl es das Milieu des Henkers nahe legt, gelingt es Björn Springorum ganz ohne detaillierte Gewaltdarstellung oder Grausamkeiten die Spannung der Handlung von der ersten bis zu letzten Seite aufrecht zu erhalten.

Ein überaus empfehlenswerter und spannender Jugendroman, in der die historische Figur des englischen Henkers William Calcraft und der Londoner Lebenswelt der viktorianischen Zeit gekonnt mit Fantasy- und Mystik-Elementen verknüpft werden.

Björn Springorum, Der Ruf des Henkers. Ill. v. Maximilian Meinzold, ab 13 Jahren
Stuttgart: Thienemann Verlag 2016, 352 Seiten, 15,50 €, ISBN 978-3-522-20216-9

 

Weiterführende Links:
Thienemann Verlag: Björn Springorum, Der Ruf des Henkers
Wikipedia: Björn Springorum
Wikipedia: William Calcraft

 

Andreas Markt-Huter, 07-12-2016

Bibliographie

AutorIn

Björn Springorum

Buchtitel

Der Ruf des Henkers

Erscheinungsort

Stuttgart

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Thienemann Verlag

Illustration

Maximilian Meinzold

Seitenzahl

352

Preis in EUR

15,50

ISBN

978-3-522-20216-9

Lesealter

Zielgruppe

Kurzbiographie AutorIn

Björn Springorum wurde in Calw in Deutschland geboren und studierte Englisch und Geschichte. Der Schriftsteller und Kulturjournalist lebt, schreibt und liest in Stuttgart.<br />Maximilian Meinzold ist freischaffender Grafikdesigner und Illustrator. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Science-Fiction, Fantasy und der Kinder- und Jugendliteratur. Er lebt und arbeitet in München.