Lilli Thal, Die Puppenspieler von Flore

„Am 25. März, an meinem letzten Schultag, holten sie mich ab. Immer noch wünsche ich mir, ich hätte vorher Bescheid gewusst. Das Fest, das meine Eltern anlässlich des Schulabschlusses ihres ältesten Sohnes vorbereitet hatten – wir hätten es am Abend vorher feiern können, als Abschiedsfest, ganz für uns.“ (7)

Tamaso Kabun ist einer von zwanzig Jugendlichen aus dem kleinen Staat Parman, die an ihrem letzten Schultag von Elitesoldaten aus Corona, der mächtigsten Nation der Welt, direkt aus dem Unterricht abgeholt werden, um im Ausbildungscamp Mi zu Spionen ausgebildet zu werden. Ziel der Geheimaktion ist es, Coronas Erzfeind, die immer mächtiger werdende Militärdiktatur in Flore ins Chaos zu stürzen.

Alle Jugendlichen sind als Kinder freiwillig von ihren coronischen Eltern weggeben worden, um sie in Parman von Pflegeeltern als Parmaner großziehen zu lassen. Sechzehn Jahre später werden sie als Mimikry-Rekruten auf ihre Spionageaufgabe vorbereitet, die sie als Hausangestellte und Mitarbeiter aus Parma in die Häuser der wichtigsten Machthaber in Flore führen soll.

Tamaso fühlt sich verwirrt und entwurzelt, findet aber im Laufe der Zeit Freunde unter seinen Leidensgenossen. Er bewundert die stets fröhlichen und für freche Sprüche guten Zwillinge Kester und Silvan und verliebt sich in die schüchterne und introvertierte Mailin, die sich als die beste Schützin im Ausbildungscamp entpuppt. Tamaso selbst hingegen erweist in allen Disziplinen meist nur durchschnittlich begabt. Seine Stärke liegt im Handwerk, im Reparieren von Dingen, eine Fähigkeit, die er bei seinem Adoptivvater erlernt hat.

Während alle Rekruten sich in ihr Schicksal fügen, bäumt sich Isao dagegen auf und plant die Flucht, für die ihm Tamaso einen Schlüssel für die Flucht anfertigen soll. Der junge Ausbildner Alan, dem die Jugendlichen vertrauen, durchschaut den Plan und verhindert die Flucht. Von diesem Tag an wird Tamaso von Isao als Verräter und Todfeind betrachtet.

Am Ende der Ausbildung werden Tamaso, Mailin, Kairi, die Zwillinge Kester und Silvan sowie Isao in die florische Stadt Heiman geschickt, wo Tamaso als Mechaniker im Haus von Marschall Utuk arbeiten soll, den zweitmächtigsten Mann in Flore. Die anderen sollen Tamaso vor allem unterstützen und die hochrangigen Persönlichkeiten in ihren Häusern ausspionieren. Ihre Anweisungen werden sie vom sogenannten „Leader“ erhalten, der sie in seinen Plan einweihen und ihnen die entsprechenden Aufträge erteilen wird.

Während Marschall Utuk dem grausamen Machthaber entspricht, wie er Tamaso beschrieben worden ist, zeigen sich die anderen Mitglieder und Bediensteten des Hauses als liebenswerte Menschen, die ihm mit Freundlichkeit begegnen. Besonders fasziniert ist Tamaso von den Proben des Puppenspiels, das von Frau Utuk geleitet wird und bei dem auch ihr behinderter Sohn Rix mitspielt. Tamaso beginnt zunehmend an seinem Auftrag zu leiden und an seiner aussichtslosen Lage zu verzweifeln.

Lilli Thals Jugendroman ist die düstere Geschichte einer Welt im Krieg, in der Individuen ebenso zwischen die Stühle geraten wie kleine Nationen. Dabei stehen die Höflichkeitsformen und Manieren der von der Großmacht Corona abhängigen Parmaner in krassem Gegensatz zu den Umgangsformen, wie sie beim Militär vorherrschen. Auch die Schwarz-Weiß-Malerei, die Einteilung in Freunde und Schurken, wie sie von den Mächtigen verbreitet wird, verwischt sich in der Nähe und im Alltag.

Die Mittel und die Skrupellosigkeit, mit denen die selbsternannten „Guten“ ihre Gegner besiegen wollen, unterscheiden sich in nichts von denen ihrer Feinde und am Ende scheint jeder nur seine eigene Macht und eigenen Vorteile verfolgen zu wollen. Opfer sind die Unschuldigen, die lediglich wie Marionetten eingesetzt und für die eigenen Zwecke missbraucht werden.

Lilli Thal schildert den inneren Kampf des Protagonisten, der in seinen Zwängen Schuld auf sich lädt und dennoch versucht, das moralisch richtige zu tun und damit auf seine Weise zu einem stillen Helden wird. Vor allem die Parallelhandlung des Puppenspiels übt einen wichtigen Einfluss auf seine Entwicklung aus.

Ein von der ersten bis zur letzten Seite fesselnder Roman, der die Frage nach Menschlichkeit, Individualität und Schuld in das Zentrum der Handlung stellt und von allen Seiten beleuchtet. Ein großer und überaus empfehlenswerter Jugendroman, der auf platte Heldenromantik verzichtet und stattdessen die psychologische Qual auswegloser Entscheidungen nachempfinden lässt.

Lilli Thal, Die Puppenspieler von Flore. Ab 14 Jahren
Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2015, 480 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-8369-5801-1

Weiterführenden Links:
Gerstenberg Verlag: Lilli Thal, Die Puppenspieler von Flore
Wikipedia: Lilli Thal

Andreas Markt-Huter, 16-02-2016