Martin Leidenfrost, Brüssel zartherb

Buch-CoverOft verdichten sich in der Geschichte ganze Imperien zu einer Stadt und stellen auf konzentriertem Raum Kultur, Lebensform und Ideologie zur Schau.

Rom, Athen, Matschu Pitschu, St. Petersburg, Wien oder Paris haben zu gewissen Zeiten ein riesiges politisches Gebilde verwaltet, in der Weimarer Republik genügte eine einzige Sitzung, um einer Epoche den Namen zu geben.

Müsste man nicht Brüssel einmal als Zentrum eines Giga-Gebildes analysieren, um dieses Machwerk namens EU halbwegs zu begreifen? - Der Journalist Martin Leidenfrost hat sich auf den Weg nach Brüssel gemacht und ungefähr ein Jahr lang Woche für Woche aus der Hauptstadt der Bürokratie berichtet. Das Vorurteil, wonach die beiden B (Bürokratie und Brüssel) untrennbar zusammen gehören, lässt sich allerdings nicht ganz einfach aus dem Weg schaffen, im Gegenteil, die besten Geschichten der EU schreibt noch allemal die Bürokratie.

So sind denn auch die Heroen dieser zartherben Beschreibung mehr oder weniger verkappte Individuen, die im Brüsseler Biotop zu neuen Stammbäumen der Verwaltung geführt haben. Die Tabaklobby, die Jäger, die Dicken, die Albaner, die Skeptiker - sie alle treten in seltsamen Rudeln in Brüssel auf und entwickeln fern ihrer Heimaten eigenartige Tänze um das Protokoll, erfinden zwischendurch eine Vorschrift, organisieren Kongresse und Giga-Sitzungen und übersetzen all ihr Tun in möglichst alle dreiundzwanzig Amtssprachen.

Neben dem offiziellen Treiben in den Büros, die nach einem Strichcode-System organisiert sind, spielen vor allem Essen und Sex eine große Rolle. Den Brüssel-Profi erkennt man daran, dass er geradezu hyperschlank und vom Laufband durchgewalkt ist, während der Anfänger wöchentlich zwei Kilo zunimmt, bis er als Korrespondent oder Abgeordneter nicht einmal mehr auf einen Bildschirm passt.

Und für den Sex ist ein europäischer Strich zusammengestellt, wobei es durchaus der Fall sein kann, dass alle Prostituierten aus einem einzigen bulgarischen Ort stammen. Auch die transsexuelle Euro-Variante lernt man am schnellsten in Brüssel kennen.

Und plötzlich stand er neben mir, der erste Transsexuelle meines Lebens. Sofia aus Spanien, groß und breitschultrig, traurige Augen unter einer Make-up-Kruste. Sie strich mir zärtlich über das Gesicht und lobte meine Haut als weich und schön. Sie schlug den Gang ins  Stundenhotel vor. Fünfzig Euro, erklärte sie sanftmütig. Sie habe sich für siebentausend Euro eine Vagina machen lassen, damit könne sie "Fantasmen" erleben, "keinen Orgasmus?". Mir fielen nur dumme Fragen ein. Nach fünf Minuten gab Sofia die Verführung auf, sie kehrte auf die Straße zurück. (104)

Vielleicht erklärt diese kleine Szene zwischen Sein und Schein, künstlichen Glücksorganen und zärtlichem Geschäft alles, was in Brüssel so läuft. Hier ist nicht nur die weltberühmte Schokolade zartherb, auch die Heroen der Bürokratie versuchen unter dem Schutzschild unendlicher Reglementierungen einen Hauch von Glück zu ergattern, für sich selbst und stellvertretend für uns 500 Millionen Bewohner der Peripherie Brüssels.

Martin Leidenfrost, Brüssel zartherb. Fünfzig europäische Expeditionen.
Wien: Picus 2010. 256 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-85452-660-5.

 

Helmuth Schönauer, 24-11-2010

Bibliographie

AutorIn

Martin Leidenfrost

Buchtitel

Brüssel zartherb

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Picus

Seitenzahl

256

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-85452-660-5

Kurzbiographie AutorIn

Martin Leidenfrost, geb. 1972 in Niederösterreich, lebt in Devinska Nova Ves.