Anita Pichler, Die Frauen aus Fanis

Die heftigste Literaturform ist das Fragment, die wesentlichen Geschichten lassen sich nur als Fragment erzählen, das Fragment ist vollkommen, weil es unvollendet ist.

Anita Pichler hat vor einem Vierteljahrhundert zusammen mit der Sagenforscherin Ulrike Kindl die Sagenwelt der Dolomiten erwandert und in dreizehn Erzählungen über archaische Frauengestalten versucht, die Sagenwelt in Bruchstücken zu vermessen. „Die Frauen aus Fanis“ sind seither der Inbegriff fragmentarischen Erzählens und immer wieder wird Anita Pichler selbst als eine Frau aus Fanis empfunden.

„Fragmente sind beunruhigend, bedrohliche Boten des Chaos, der Auflösung von Ordnung, der unendlichen Möglichkeit des Deutens bei vollem Bewusstsein, dass die Wirklichkeit des Zusammenhanges nur eine gewesen sein kann, womöglich eine sehr banale“, schreibt Ulrike Kindl in ihrem Nachwort. (128).

Auf Fanis, der Hochalpe der Dolomiten, treten sie dann alle auf, die Tanna, die kurz aus dem Stein erwacht und dann wieder zu Stein wird, Samblana, die in einem Gletscher wohnt und sich mit toten Mädchen füttern lässt, Moltina, das göttliche Mädchen, oder Delba, die nur bei bestimmten Lichtverhältnissen zum Leben erweckt ist. Somawida hat unterirdische Schätze angehäuft ganz im Gegensatz zu Sorejina, die nur im strahlenden Licht leben kann. Und überstrahlt werden diese Figuren von der Faneskönigin, die von den Fanes zur Fürstin gemacht worden ist.

Die Fremden suchten die Steine aus dem Gras und häuften sie zu Mauern um die Erde. Mauern gegen Wind und Wasser bildeten kleine Terrassen am Berg, und die Fanes trieben ihre Schafe höher. (50)

Obwohl in diesen archaischen Erzählungen kein einziges Wort aus der Gegenwart vorkommt, lassen sich diese Geschichten von Feuer, Wind und Vermehrung wie ein Kommentar zur Gegenwart lesen. Inszeniert in einem touristisch hochgefahrenen Dolomiten-Ort, entfalten diese Sagen zwischen Schneekanonen und Helikoptern erst ihre volle Wucht.

Während vor Jahrzehnten die Sagenwelt der Dolomiten in der Hauptsache in der Ausgabe von Karl Felix Wolff in den diversen Hausregalen ausgerollt worden ist, hat jetzt Anita Pichler mit den Frauen aus Fanis die Erzählherrschaft übernommen. Und diese Fragmente funktionieren auch als Taschenbuch, E-Book und geflüsterter Geheimtipp fernab der Überwachungsschirme der Geheimdienste.

Anita Pichler, Die Frauen aus Fanis. Geschichten aus der Sagenwelt der Dolomiten. Mit Erläuterungen und einem Nachwort von Ulrike Kindl. Herausgegeben von Sabine Gruber und Renate Mumelter.
Innsbruck: Haymon 2014. (= Haymon TB 161). 143 Seiten. EUR 9,95. ISBN 978-3-85218-961-1.

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Anita Pichler, Die Frauen aus Fanis
Wikipedia: Anita Pichler

 

Helmuth Schönauer, 06-03-2014

Bibliographie

AutorIn

Anita Pichler

Buchtitel

Die Frauen aus Fanis. Geschichten aus der Sagenwelt der Dolomiten

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Haymon Verlag

Herausgeber

Sabine Gruber / Renate Mumelter

Seitenzahl

143

Preis in EUR

9,95

ISBN

978-3-85218-961-1

Kurzbiographie AutorIn

Anita Pichler, geb. 1948 in Meran, starb 1997.