Alissa Ganijewa, Die russische Mauer

Bei jeder Mauer gibt es die interessante Frage: Wo ist vorne und wo hinten und woraus besteht sie?

Bei Alissa Ganijewa besteht die Mauer vor allem aus Gerüchten und zieht sich folgerichtig durch die Köpfe der Protagonisten. Der Roman „Die russische Mauer“ beschreibt das Leben in Dagestan, das aus einer mythologischen Erfolgsgeschichte und einem gegenwärtigen Desaster besteht.

Held ist der Lokalreporter Schamil, der zwar zu immer aufregenderen Nachrichten kommt, diese aber kaum noch ungebrochen verbreiten kann. Dagestan ist in Aufruhr, die religiösen Gruppierungen übernehmen das Kommando, das öffentliche Leben wird zu einem religiös verkürzten Ritual, immer öfter gehen Menschen in den Wald, um Terroranschläge vorzubereiten.

Dabei verschwinden allmählich die Vorzüge Dagestans, ein kulturell reiches Land, fruchtbar, voller Handel und Geselligkeit. Dagegen sind die Russen hinter dem Kaukasus richtige Trampel und Barbaren, empfinden es die Einheimischen zumindest in ihren alten Geschichten und Erzählungen. Gute Nachrichten werden von den Schriftstellern seit Jahrhunderten in lange Poems gegossen.

Dann eskaliert die Lage, die Russen bauen angeblich einen Wall, um sich gegen die Terroristen zu schützen, die Veränderungen gehen durch alle Köpfe, quer durch die Familien. Als Schamil seine Verlobte Madina besuchen will, teilt ihm ihr Vater betroffen mit, dass sie in den Wald gegangen sei und sich den Kämpfern angeschlossen hat. - Die Veränderungen wirken schleichend und schneidend scharf zu gleich.

Während Jugendliche noch versuchen, durch nächtliche Autokorsos in der Stadt etwas Abenteuer und Zukunft zu inhalieren, fallen tagsüber schon überall die Schleier über die Gesichter. Plötzlich gelten schöne Beine als gefährlich, wenn eine Frau Bein zeigt, ist sie meist eine Terroristin, die demnächst den Bus in die Luft sprengt.

Jetzt erweist sich der Filz des Landes als lähmend. „Normale Menschen verdienen Geld und bringen ihre Verwandten gut unter!“ (127) Dieses Rezept des öffentlichen Dienstes funktioniert nicht mehr, weil die Menschen samt ihren Funktionen untertauchen oder in den Wald gehen.

Dann fällt das Handynetz aus, die Mauer scheint zu funktionieren, die Flüge nach Moskau sind unterbrochen. Krieg ist, wenn es keine Außenwelt mehr gibt.
Alissa Ganijewas Roman zeigt eindringlich, wie eine Gesellschaft zerfällt, wenn sie sich selbst überlassen wird. Es ist dieses schleichende Gift, das teils aus religiösen Motiven, teils aus Isolation die Menschen in das Chaos treibt.

Die Mauer schließlich ist der irreale Versuch in den Köpfen, böses Gedankengut chirurgisch abzusondern. – Ein Erklärungsversuch, die Gedankengänge einer amorphen Moskauer Zentrale mit den aufgelösten Strukturen einer fernen Provinz durch eine scharfe Linie in Verbindung zu bringen. Harnoncourt würde sagen: Sehr heutig!

Alissa Ganijewa, Die russische Mauer. Roman. A. d. Russ von Christiane Körner. [Orig.: Prazdnicnaja gora, Moskau 2012.]
Berlin: Suhrkamp 2014. 232 Seiten. EUR 23,60. ISBN 978-3-518-42425-4.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Alissa Ganijewa, Die russische Mauer
Wikipedia: Alissa Ganijewa

 

Helmuth Schönauer, 11-03-2014

Bibliographie

AutorIn

Alissa Ganijewa

Buchtitel

Die russische Mauer

Originaltitel

Prazdnicnaja gora

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Christiane Körner

Seitenzahl

232

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-518-42425-4

Kurzbiographie AutorIn

Alissa Ganijewa, geb. 1985, aufgewachsen in Machatschkala/Dagestan, lebt in Moskau.