Erika Wimmer, Nellys Version der Geschichte

Es gibt keine absoluten Wahrheiten, alles, was wir für wahr halten sind letztlich mehr oder weniger geschickte Arrangements.

Erika Wimmer stellt in ihrem Roman über die „Ansicht eines Dichterinnenlebens“ bewusst Mehrdeutiges, Vages und Relatives in den Mittelpunkt des Erzählens. So genau und bohrend auch recherchiert wird, das Ergebnis ist immer nur eine gewisse Version einer Geschichte zu einer bestimmten Zeit.

Hauptfigur des Romans ist die verstorbene Schriftstellerin Valerie, die von ihrem Freundeskreis in Erinnerung gerufen und zum Weiterleben erweckt wird. Der Start ist ein fulminantes Literaturereignis, wie es täglich auf dem Kontinent der Fiktion vorkommt. Die Ich-Erzählerin wird Zeugin einer Inszenierung der Realität, Literatur wird zu einem performativen Akt, der Wirklichkeit schafft.

Auf dieser Lesung, bei der die Erzählerin die Autorin mit einem lyrischen Du zum Leben erweckt, sind alle Freunde und Freundinnen dabei, die sich letztlich ein Leben lang um eine korrekte Sichtweise von der Valerie bemühen. Als Valerie nämlich stirbt, hinterlässt sie nicht nur ein literarisches Werk sondern vor allem viele fragmentarische Beziehungen.

Nach ein paar Jahren versuchen die damaligen Partner und Freunde in einer filigranen Inszenierung so etwas wie einen dokumentarischen Film zu drehen. Regisseur dieses Filmes ist Sturm, der auch in der Koordination der Beteiligten Lebens-Regie führt.

Neben literarischen  Konstellationen wie Schreibwut und Schreibhemmnis geht es vor allem um die Beziehungen, Erotik, Freundschaft, persönliches Verhältnis und allgemeine Zurschaustellung.

Alle Erotik hat sich in Freundschaft verwandelt, sobald sie krank wurde. (131)

Die Krankheit Valeries wird an manchen Tagen zu ihrer gespiegelten Persönlichkeit.

Ihre letzte Beziehung war kein Mann sondern eine Frau. (135)

Die Freunde sind sich einig, dass es in der Literatur keine Trennung zwischen Privatem und Politischem geben darf.

Der Film besteht vielleicht darin, dass er entworfen und geplant und in Abschnitten durcherzählt wird, er muss als solcher gar nicht abgeschlossen werden. So ist die Sichtweise Nellys, die lange die Partnerin des Regisseurs gewesen ist, eine mögliche Form, die verhindert, dass eine verengende, endgültige Fassung entsteht.

Im Epilog taucht die Erzählerin wieder auf und macht sich Gedanken über die Folgen, die solche Porträts haben können. Einerseits ist sie sich der Aufgabe einer Wärterin bewusst, sie muss wachen, dass das Bild nicht verzerrt oder verhätschelt wird, andererseits „möchte sie seicht sein“. Dieses Jelinek-Zitat hilft, dem Tiefsinn der Dramen rundum abzuschwören.

Es sei schön, im seichten Wasser zu gehen und nichts anderes anzustreben. (230)

Erika Wimmers Roman trifft uns mitten in der Sehnsucht von damals, als wir junge Künstlerinnen, Leser und Freundinnen gewesen sind, und sie belässt uns in Zufriedenheit, wenn wir jetzt sehen müssen, dass alles ganz anders gekommen ist.

Erika Wimmer, Nellys Version der Geschichte. Roman.
Innsbruck: Limbus 2014. 230 Seiten. EUR 19,80. ISBN 978-3-99039-000-9.

 

Weiterführende Link:
Limbus Verlag: Erika Wimmer, Nellys Version der Geschichte
Wikipedia: Erika Wimmer

 

Helmuth Schönauer, 05-03-2014

Bibliographie

AutorIn

Erika Wimmer

Buchtitel

Nellys Version der Geschichte

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

230

Preis in EUR

19,80

ISBN

978-3-99039-000-9

Kurzbiographie AutorIn

Erika Wimmer, geb. 1957 in Bozen, lebt in Innsbruck.