Jurij Wynnytschuk, Im Schatten der Mohnblüte

Städte historischer Verdichtung sind immer auch mit Gewalt konfrontiert. Die ukrainische Stadt Lviv ist im letzten Jahrhundert stets auch ein Ort brachialer Vernichtung gewesen, so dass man Übersetzungen aus dieser Stadt gerne etwas abmildert. Aus dem „Tango des Todes“ ist im Deutschen jetzt das Proust-sachte „Im Schatten der Mohnblüte“ geworden.

Jurij Wynnytschuk schreibt die Geschichte Lvivs durch die letzten achtzig Jahre auf. Eine Achse läuft in den Kapitelüberschriften die Buchstaben A-Z entlang und erzählt von den Ereignissen während des zweiten Weltkriegs, als die Stadt mehrmals den Wechsel der Besatzer aushalten muss. Eine zweite Achse ist nummerisch von 1-31 aufgefädelt und zeigt einen Forscher aus der Gegenwart, der aus der Zeit aussteigt und sich dem Phänomen verschollener Todes-Melodien kümmert.

In den Mittelpunkt dieser Erinnerungen und Forschungen rückt dabei der Todestango, der von einem kleinen Häftlingsorchester in einem Lvivschen KZ anlässlich der Hinrichtung von Mitgefangenen gespielt werden muss. Der Todestango fußt auf archaische, arkadische Melodien, die für den Hinzurichtenden sowohl in der diesseitigen als auch in der jenseitigen Welt zu hören sind. Die Melodie trägt den Delinquenten durch die Transformation. - Mit dieser Metapher des Todestangos versuchen die Überlebenden den Holocaust auszuhalten.

In den Zeitschichten um 1940 und 2010 bemühen sich die Bewohner gleichermaßen, über die Runden zu kommen, ein friedliches Auslangen miteinander zu finden und den alten Geschichten gerecht zu werden, indem man sie ungeschminkt erzählt.

Ein kulturelles Konglomerat ist immer auch gefährdet von Scharfmachern, Denunzianten und Überläufern der eigenen Geschichte. Das Stabile und Bleibende sind vielleicht die verwinkelten Innenhöfe der Stadt, darin wächst als Zeichen für Zähigkeit und Hoffnung die Mohnblüte, die nicht nur an Tagen ihrer halluzinierenden Wirkung das Überleben sichert.

Das Wissen wird durch skurrile Forscher aufrechterhalten, die fallweise der Welt entsagen müssen, um hinter der Alltagssexualität zu den wichtigen Erkenntnissen vorzustoßen. So ist auch die galizische Nationalbibliothek von Mythen und krummen Geschichten durchtränkt, wenn sich etwa eine Bibliothekarin für den Direktor aufspart, dann aber doch zwischen den Regalen in einem irdischen Moment ganz gewöhnlichen Sex ausfasst. Freilich altert die Bibliothekarin dabei in einem Ausmaß, dass sie fortan für ein dürres Manuskript gehalten wird. (166)

Manche Geschichten sind nach dem Vorbild des großen Jorge Luis Borges selbst ein Stück Meta-Bibliothek geworden, andere verkleiden sich in schreckliche Wahrheiten. So muss ein Ukrainer nicht einen Baum pflanzen sondern einen Feind töten, was die Geschichte des letzten Jahrhunderts ziemlich erklärt.

Die Stadt erweist sich letztlich als zerbrechliche und stets zerbröselnde Hülle für einen Klang, der sich verzieht. Sand bedeckt die Körper und daraus blüht Mohn. (229) Jurij Wynnytschuk erzählt die Melodie seiner Heimatstadt, die märchenhaft skurrile Bögen schlägt und dabei diesen Todestango umkreist, der an der Kippe der Welten gespielt wird.

Jurij Wynnytschuk, Im Schatten der Mohnblüte. Roman. A. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil. [Orig.: Tango Smerti, 2012].
Innsbruck: Haymon 2014. 455 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-7099-7145-1.

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Jurij Wynnytschuk, Im Schatten der Mohnblüte
Wikipedia: Jurij Wynnytschuk

 

Helmuth Schönauer, 27-09-2014

Bibliographie

AutorIn

Jurij Wynnytschuk

Buchtitel

Im Schatten der Mohnblüte

Originaltitel

Tango Smerti

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Alexander Kratochvil

Seitenzahl

455

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-7099-7145-1

Kurzbiographie AutorIn

Jurij Wynnytschuk, geb. 1952 in Ivano-Frankiwsk, lebt in Lviv.