Henrik Tikkanen, Brändövägen 8 – Brändö - Tel 35

In ausgeklügelten sozialen Systemen genügt die Nennung der Wohnadresse, um die darin agierenden Personen bereits genauestens zuordnen und aburteilen zu können.

Henrik Tikkanen ist als Angehöriger der schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland sehr hellhörig, was Standesdünkel, hohe Nasen und Abschottung gegenüber dem gemeinen Volk betrifft. Sein Roman Brändvögägen 8, Brändö ist der erste der sogenannten Adressbuchtrilogie, in diesen Romanen wird anhand von Musteradressen der jeweilige Lebensstil der Bewohner beschrieben.

Brändö ist eine kleine Snob-Insel vor Helsinki, darauf haben schwedisch sprechende Patrioten, Geschäftsleute und Militärs ihre Villen gebaut, und als sich der erste finnisch sprechende Handwerker ansiedelt, kommt es fast zu Tumulten. Der Ich-Erzähler rast in knappen Sätzen, die oft zu einer Lebensweisheit oder einem Kalenderspruch verdichtet sind, durch die Geschichte der Vorfahren und des jungen Finnlands zwischen den Weltkriegen.

Der Erzähler ist geprägt von einem trinkenden Vater, der selbst im Ruin noch die Nase hochzuhalten weiß. Als er in der Zwischenkriegszeit Bankrott macht, wird er Teppichverkäufer, freilich nur für edle und adelige Kundschaften. Er hat ununterbrochen Affären und Entgleisungen, sodass es für die Kinder nicht immer klar ist, wie das aktuelle Elternpaar gerade aussieht. Die Mutter des Helden stirbt früh und lebensfroh, und eine der Nachfolgerinnen ist nicht viel älter als die Kinder, von denen es genug gibt. Der Chronist ist vor allem von Brüdern umgeben, selbstverständlich sind auch Zwillinge dabei, die alles unübersichtlich machen.

Als sich die Oberschicht auf der Luxusinsel durch die Weltwirtschaftskrise gewurstelt hat, kommt ihr der Krieg gar nicht ungelegen, zum Teil kämpft man mit den Nazis gegen die Russen, zum Teil erfindet man einen eigenen Nationalismus, der den Krieg notwendig erscheinen lässt. Und vor allem im privaten Bereich ist der Krieg ein Segen, er bringt die trinkende Mutter wieder auf den Boden der Realität zurück und der Erzähler kämpft als Knabe unter der Führung seines großen Bruders diverse Schlachten. „Einer von uns wird hier nicht herauskommen“, meint der Große noch stolz, doch dann kommt der Kleine lebend heraus.

Großvater wird am Bahnübergang überfahren, weil er nur den einen Zug im Auge hat und den Gegenzug übersieht. Die Karrieren enden rundum knapp und unheroisch, manchmal bleibt noch eine kleine Lebensweisheit übrig, wie geschaffen für einen Grabstein.

„Im Stellungskrieg sieht man nichts!“ (112) Die Mutter zum Bruder, als er sich erschossen hat: „Das wars dann!“ (88) „In jedem Intellektuellen schlummert ein Deserteur!“ (127)

Nach dem Krieg geht das allgemeine Saufen weiter, als Vater stirbt, fährt man mit der Urne im Taxi zum Friedhof und anschließend auf einen Drink.
Henrik Tikkanen erzählt abgebrüht mit wenigen Strichen. Seine Kunst der Karikatur driftet in den Roman wie selbstverständlich ein. „In einem Bleistift nämlich stecken die Möglichkeiten zum ewigen Leben!“

Henrik Tikkanen, Brändövägen 8. Brändö. Tel 35. A. d Schwed. und mit einem Nachwort von Karl-Ludwig Wetzig. [Orig. Brändövägen 8, Helsinki 1975].
Berlin: Verbrecher 2014. 152 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-95732-014-8.

 

Weiterführender Link:
Verbrecher Verlag: Henrik Tikkanen, Brändövägen 8. Brändö. Tel 35

 

Helmuth Schönauer. 07-10-2014

Bibliographie

AutorIn

Henrik Tikkanen

Buchtitel

Brändövägen 8. Brändö. Tel 35

Originaltitel

Brändövägen 8

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Verbrecher Verlag

Übersetzung

Karl-Ludwig Wetzig

Seitenzahl

152

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-95732-014-8

Kurzbiographie AutorIn

Henrik Tikkanen, geb. 1924 in Helsinki, starb 1984 in Helsinki.