Renate Aichinger, wundstill

Noch mehr als bei üblichen Buchtiteln kommt es bei Gedichtbänden darauf an, im Titel bereits jene Poesie auszuleuchten, die in den Gedichten später aufgesucht wird.

Renate Aichingers Wortkosmos „wundstill“ erweckt sofort Bilder, die ins lyrische Herz treffen. Vielleicht kommt nach dem Schreien der Verwundeten in Trakls Grodek jene Stille auf, die wundstill ist, vielleicht ist es das Kind, das sich verletzt hat und jetzt wundstill gemacht ist, vielleicht ist es die Wunde, die einen ein Leben lang schon quält, und jetzt in eine Stille eingetreten ist hinter dem Pochen.

wundstill // es ist so eine eigene zeit / reingeworfen / in das nächste loch / das nur auf dich gewartet [...]“ (144) Und die Steigerung ist das anfallende Stillstill, worin sich dann die Sprache mit der zu erwartenden Zukunft auflöst. „stillstill // wenn / so zukunft / würd ich anders / ent / scheiden. (148)

Solche Schnittpunkte für Entscheidungen zeigen sich in Renate Aichingers Gedichten mannigfach, in der Hauptsache ist es die Komplementärmenge der angesprochenen Situationen, die dem lyrischen Ich zu schaffen macht. Das Wortpartikel -los zeigt geradezu den Mangel von dem, was angesprochen ist. So gliedern sich die Gedichtgruppen um zehn „lose“ Begriffe.

ideen.los / führungs.los / grenzen.los / mittel.los / perspektiven.los / rücksichts.los / generationen.los / seelen.los / beziehungs.los / poesie.los.

Gleich zu Beginn zeigt sich dieses von Autorinnen so gefürchtete Ding, das in anderen Berufen Burnout genannt wird. „schreibblockade“ (12), ein einzelnes Wort, hingesetzt als Hilferuf und Haltegriff, drum herum wird das Blatt so schrecklich leer, wie ein Leerraum nur in der Lyrik zusammengefasst werden kann.
Öffentliche Wut sickert bis ins Innerste der lyrischen Seele und endet als fassungsloses Wortspiel. „lauschangriff // ab / gehört / gehört / auf / gehört“ (28)

Seltsam kalt und erregend wird plötzlich der Transitraum, wenn darin ein Mensch zwischen Wertezonen oder politische Systeme geraten ist. Selbst die Liebe endet oft in einem Transitraum, der als Schleuse dient für das Ungewisse.

transitraum // du sitzt / & wartest / auf ihn / auf den anruf // du stehst auf / & gehst / auf einmal klingeln / aufgelegt (122)

Neben dem Display, auf dem sich die Welt zurecht wischen lässt, ist wohl das Wimmelbild zum Inbegriff unserer Wahrnehmung geworden. Alles ist gleichzeitig, demokratisch, offensiv, zukunftsfroh und kontrolliert, der Einzelne freilich geht in einem Wimmelbild unter wie in einer zu eng dimensionierten Fußgängerzone.

wimmelbild // wir / kleinen mücken // schwirren / umeinander / sehen einander verwechslungsähnlich / haben keine ahnung wer wir sind / nehmen platz / aufeinander // morgen werden wir weiter schwirren / verwirrt (134)

Renate Aichingers Gedichte, die sie selbst als „lürix“ bezeichnet wie einen Gefühlscomics, setzen der Welt an allen möglichen Stellen einen Schnitt an, der manchmal blutet, manchmal eine Erkenntnis ausspuckt, manchmal keinen Mucks macht, „dieser moment / wenn / alles / wundstill“. (146)

Renate Aichinger, wundstill. Gedichte / 78 lürix.
Innsbruck: Edition Laurin 2014. 148 Seiten. EUR 17,90. ISBN 978-3-902866-20-2.

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Renate Aichinger, wundstill
Wikipedia: Renate Aichinger

 

Helmuth Schönauer, 28-11-2014

Bibliographie

AutorIn

Renate Aichinger

Buchtitel

wundstill. Gedichte / 78 lürix

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

148

Preis in EUR

17,90

ISBN

978-3-902866-20-2

Kurzbiographie AutorIn

Renate Aichinger, geb. 1976 in Salzburg, lebt in Wien.