Sabine Scholl, Nicht ganz dicht

Was wie ein Urologen-Befund klingt, ist in der Literatur eine Äußerung der mehrsprachigen Autorin Yoko Tawada. „Es kann für mehrsprachige Dichterinnen und Dichter ein Vorteil sein, wenn die Wände in ihrem Gehirn 'nicht ganz dicht' sind. Durch die undichte Wand sickert der Klang einer Sprache in eine andere hinein.“ (27)

Sabine Scholl streift mit ihren Analysen durch diese mehrsprachigen Literaturen und versetzt sich dabei in die wichtigsten Literatur-Driften und Metropolen. Lange gilt die Auseinandersetzung zwischen Ost und West als eine Konfrontationslinie des Kalten Krieges, der auch die Literatur nicht kalt lässt. Mittlerweile hat von Europa aus gesehen der Osten mehrere Bedeutungen, je nach Kriegslage können auch der Balkan oder die Ukraine gemeint sein. Immer ist davon auch die Literatur betroffen.

Die literarischen Driften folgen den Phänomenen der Bevölkerungsbewegungen, zum einen geht es stracks ab in die multilingualen Metropolen, andererseits werden scheinbar unberührte Gebiete heimgesucht wie die Innereien Australiens.

Beispielhaft werden die Zwischen-Literaturen anhand afrikanischer, japanischer und australischer Autorinnen untersucht. Einen Spezialfall stell Anna Kim dar, die als europäische Koreanerin die kulturelle Einverleibung Grönlands durch Dänemark beschreibt. Die Klassiker der Einverleibungs-, Invasions- und Assimilierungs-Romane sind im Anhang aufgeführt.

Sabine Scholl streicht die Thesen aus ihren Vorträgen, Übersetzungsreisen und Werkanalysen hervor und führt anhand der Primärliteratur die eine oder andere Stichprobe durch. Nur allzu oft wird eine nicht genau formulierte Norm der Sprache vorgeschoben, um jemanden vorerst einmal vom eigenen Schachbrett auszuschließen, wenn der oder die mit der Erfahrung anderen Spielregeln das eingezäunte Spielfeld betreten.

Es ist ein komplexes Gebiet, auf das sich Autorinnen, Übersetzerinnen und Analystinnen immer dann einlassen, wenn sie zwischen den Sprachwänden unterwegs sind. Das entscheidende Plädoyer stammt aus Taiye Selasis Rede „Afrikanische Literatur gibt es nicht“. Von ihr geht die Überlegung aus, Literatur wie Musik zu behandeln, entscheidend ist die Identität des Textes nicht die des Autors.

„Jedes mal, wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, löschen wir unsere persönlichen Grenzen aus.“

Angesichts der nicht ganz dichten Weltliteratur mutet es seltsam an, wie gerade in der lokalen und europäischen Literatur der Personenkult der Autoren bis in den Staub der Vorlass-Kisten hinein zelebriert wird. Mit etwas Augenzwinkern kann man auch hier den guten Goethe anführen, der einerseits als der Erfinder des Personenkultes gilt, andererseits mit seinem West-östlichen Diwan als einer der ersten begriffen hat, was Weltliteratur sein müsste.

Sabine Scholl, Nicht ganz dicht. Zu örtlichen Verschiebungen und Post-Literaturen.
Wien: Sonderzahl 2015, 104 Seiten, 18,60 €, ISBN 978-3-85449-431-7

 

Weiterführender Link:
Sonderzahl Verlag: Sabine Scholl, Nicht ganz dicht

 

Helmuth Schönauer, 29-05-2015

Bibliographie

AutorIn

Sabine Scholl

Buchtitel

Nicht ganz dicht. Zu örtlichen Verschiebungen und Post-Literaturen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Sonderzahl Verlag

Seitenzahl

104

Preis in EUR

18,60

ISBN

978-3-85449-431-7

Kurzbiographie AutorIn

Sabine Scholl, geb. 1959 in Grieskirchen, lebt in Wien.