Adam Johnson, Nirvana

Wie die Gegenwart so tickt lässt sich zwischendurch an Erzählungen ablesen, die auf der Höhe der Zeit mit allen Mitteln der Fiktions-Technik Stoff aus den Nischen des Daseins holen.

Adam Johnson lehrt nicht nur creative writing sondern entwickelt in Zusammenarbeit mit allen möglichen und unmöglichen Instituten in Stanford neue Standards des Erzählens. Medizin, Kybernetik, Digitalisierung und Cloud-Philosophie rollen das Schicksal moderner Menschen auf, die entweder verkabelt mit dem Tod ringen, von der jüngeren Stasi-Geschichte eingeholt werden oder in der Pornokultur versinken.

In der Titel gebenden Erzählung „Nirvana“ rettet sich der Erzähler in die Welt der Hologramme, er hat sich aus historischen Aufnahmen einen persönlichen Präsidenten geklont, mit dem er Tag für Tag die Weltlage bespricht. Seiner gelähmten Frau Charlotte hat er Kurt Cobain, den Sänger von Nirvana geklont.

Charlotte will unbedingt ein Kind, weil sie ohnehin sinnlos im Bett liegen muss, da kann sie gut eine Schwangerschaft ausliegen. Der dafür nötige Geschlechtsverkehr wird mit Drohnen, die die Situation filmen, und Musik von Nirvana abgerundet.

In der Story um den Hurrican Katrina streift ein Vater mit seinem kleinen Sohn durch das verwüstete Land, um dessen Mutter zu suchen. Beinahe zufällig entdeckt er sie im Gefängnis, das zu einer Obdachlosen-Bude umfunktioniert ist. Mit bürokratischen Tricks versucht er seinen Sohn los zu werden, weil er vielleicht gar nicht sein Sohn ist.

„Interessant“ ist ein häufiges Wort, das im Small-Talk eine Antwort ersetzen soll. Eine Schriftstellerin erzählt nun eine Menge Scheiß, der jeweils mit dem Wort „Interessant“ abgenickt wird.

„Mein Freund George Orwell und ich“ ist extra mit der Gattungsbezeichnung „eine Geschichte“ unterlegt, weil hier ein Stück echte Stasi-Geschichte erzählt wird. Ein ehemaliger Gefängnisdirektor der DDR geht täglich mit seinem Hund Prinz an seinem früheren Arbeitsplatz entlang, da wird er mediengerecht in ein Ausstellungskonzept eingebunden, das die Schrecken der Folter und der Finsternis zeigt. Der ehemalige Zuchtmeister steigt begeistert in das Programm ein und stellt sich dabei selbst als ein Stück Zeitgeschichte aus.

„Dark Meadow“ ist der Tarnname für ein Spionageprogramm, das Pornobilder über Jahrzehnte im Netz verfolgen kann. Ein Hobby.Administrator, der nebenher Rosen züchtet, hat es geschrieben. Das Programm ist so erfolgreich, dass niemand sagen kann, ob es die Bösen schützt oder die Guten verunglimpft. Neben den Rosen kümmert sich Dark Meadow um zwei verwahrloste Nachbarmädchen und kann plötzlich nicht mehr unterscheiden, was Cyber-Porno und was echt ist. Er schlägt sich in die Rosen und beginnt handfest zu onanieren.

Adam Johnson stürzt den Leser mit seinen virtuellen Schummel-Bildern ins Glaubwürdigkeitschaos. Was ist echt, was ist Netz? Kann die Moral mit den Techniken mithalten? Ist das ganze Leben vielleicht bloß eine Inszenierung, die sich jemand aus der Cloud heruntergeholt hat? - Aufwühlend wie ein Trojaner in der Blutbahn.

Adam Johnson, Nirvana. Stories. A. d. Amerikan. von Anke Caroline Burger [Orig.: Fortune Smiles, New York 2015]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, 265 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-42500-8


Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Adam Johnson, Nirvana
Wikipedia: Adam Johnson

 

Helmuth Schönauer, 11-01-2016

Bibliographie

AutorIn

Adam Johnson

Buchtitel

Nirvana. Stories

Originaltitel

Fortune Smiles

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Caroline Burger

Seitenzahl

265

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-42500-8

Kurzbiographie AutorIn

Adam Johnson, geb. 1967 in South Dakota, lehrt in Stanford.