Georgi Gospodinov, 8 Minuten und 19 Sekunden

Ein guter Titel wird unumstößlich wahr, wenn er sich an physikalische Grundgesetze hält. 8 Minuten und 19 Sekunden braucht das Licht, um von der Sonne auf die Erde zu gelangen, wir sind also mit jedem Sonnenstrahl dieser Zeitangabe ausgesetzt.

Georgi Gospodinov kümmert sich in seinen knapp zwanzig Erzählungen um alles, was durch die Zeit zum Verschwinden gebracht wird oder sich so verändert, dass es nicht mehr erkannt wird. Bereits in der Titel-gebenden Eingangsgeschichte verschwindet die Sonne, was aber erst nach den berüchtigten acht Minuten neunzehn bemerkt wird. Der Erzähler erklärt dem Leser, dass die Sonne während des Lesens verschwinden könnte, denn die Geschichte dauert genau so lange, wie das Sonnenlicht bis zu uns braucht. Es ist also gar nicht gewiss, dass etwas, was am Beginn einer Erzählung noch wie selbstverständlich da ist, am Ende des Textes auch noch da ist. Vielmehr dient das Erzählen oft der Auflösung von Selbstverständlichem.

Dieses Dreieck Autor – Leser – Zeitverschiebung ist über jede Erzählung gelegt, im Sinne der Postmoderne ist der Text dabei nicht fertig, sondern muss vom Leser in doppelter Bedeutung fertig gemacht werden.

Vor dem Hotel Bulgaria spielt eine Kindheitserinnerung, indem dem Siebenjährigen die Haare geschnitten werden sollen; Vater redet mit dem Friseur, während sich knapp überm Ohr die Schere austobt und alles wegschneidet, was überflüssig ist. Mit den Haaren werden auch die Ereignisse zurückgestutzt auf das Wesentliche. Fast alle Erzählungen des Hotel-Friseurs enden mit dem Tod, „es wird viel gestorben in den Hotels“. (14)

Oft setzen die Geschichten nach fünfzig Jahren an ganz anderer Stelle ein, als sie damals aufgehört haben. In der Episode „Gespenster“ treffen sich Freunde nach einem halben Jahrhundert an einem Treffpunkt, der längst abgerissen worden ist. Dennoch treffen sie aufeinander und empfinden sich als Gespenster, weil sie sich Zeit- und Ort-los getroffen haben.

„Einen Vater adoptieren“ heißt die berührend naive Politnovelle, worin ein Kind den gestürzten Stalin zumindest als Kopf nach Hause trägt und stolz ist, endlich den Vater ganz nah zu haben, der bisher nur in den Nachrichten als Vater des Landes aufgetreten ist.

Eine Frau, die sich im Hotel umbringen will, ist so nett, und hängt das Schild Do-not-disturb an die Tür, damit niemand erschrickt, wenn er sie findet.

Ein Erzähler findet die Weihnachtsgeschichte von O. Henry und den alten Mann von Hemingway zum Kotzen, er repariert aber beide Geschichten, damit sie vielleicht andere ohne Würgen lesen können. Der Eingriff des Lesers in die Literaturgeschichte wird zum Programm.

Georgi Gospodinov surft quer durch die Wellen, die vom literarischen Zeitgeist jeweils an Land laufen. Das wichtigste ist ein von der Erinnerung entrückter Aussichtspunkt jenseits von Zeit und Ort, dann erzählen sich mit Hilfe des Lesers die Geschichten von selbst, und wie!

Georgi Gospodinov, 8 Minuten und 19 Sekunden. Erzählungen. A. d. Bulgar. von Alexander Sitzmann. [Orig-: I vsichko stana luna, 2013]
Graz: Droschl 2016, 141 Seiten, 19,00, ISBN 978-3-85420-948-5

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Georgi Gospodinov, 8 Minuten und 19 Sekunden
Wikipedia: Georgi Gospodinov

 

Helmuth Schönauer, 11-02-2016

Bibliographie

AutorIn

Georgi Gospodinov

Buchtitel

8 Minuten und 19 Sekunden

Originaltitel

I vsichko stana luna

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Droschl Verlag

Übersetzung

Alexander Sitzmann

Seitenzahl

141

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85420-948-5

Kurzbiographie AutorIn

Georgi Gospodinov, geb. 1968 in Jambol, lebt in Sofia.