Gioaccino Criaco, Schwarze Seelen

Die echten Krimis spielen nicht in der lauen Wachau unter Marillen sondern in den zusammen gestampften Soziotopen der Wälder Kalabriens und des Dschungels von Mailand.

Gioaccino Criaco greift die Erzählform eines Soziologen auf, der in Ich-Form quasi eine Feldstudie an sich selbst durchführt. Tatsächlich ist der Plot autobiographisch, wonach die Söhne von kalabrischen Ziegenhirten nach Mailand zum Studieren gehen und später in der Heimat das Land politisch aufzumischen versuchen. Die Figuren, Strategien, Motive und Prozesse sind aus der unmittelbaren Zeitgeschichte entnommen, wie sie sich in den Chronik-Teilen lokaler Zeitungen seit Jahrhunderten darbieten.

Durch den Ich-Erzähler und das Wissen des Lesers, dass der Vater des Autors bei einer Blutfehde ums Leben gekommen ist und der Bruder lange Zeit als der meistgesuchte Verbrecher gegolten hat, entsteht hohe Authentizität, man glaubt sofort alles, was man liest.

Bereits der Start liefert enormes Insiderwissen, im internen Befehlsgebrauch werden etwa gekidnappte Personen als Schweine bezeichnet, ledige Kinder gelten als Muli. Die Kinder sind voll in die Mafia-Geschäfte mit eingebunden und bewachen „Schweine“, bis diese wieder zurück in die Großstädte geliefert werden. Noch als Gymnasiasten überfallen die drei Protagonisten ein Postamt und liefern damit vor aller Welt ihr Gesellenstück ab.

Wie in einem gutbürgerlichen Entwicklungsroman fasst das Trio immer größere Coups ins Auge. Offiziell gehen alle drei zum Studium nach Mailand, aber die Stipendium-Vorschriften sind so hart, dass man damit nicht überleben kann. Die drei steigen in den Drogenhandel ein und führen den Heroin-Kult zu einer noch nie dagewesenen Blüte.

Aber es ist eben ein Unterschied, ob man in Kalabrien oder in Mailand tätig wird, das gilt für alle Sparten. Der Staat erlässt neue Anti-Mafia-Gesetze und den bisherigen Geschäftsmodellen geht es an den Kragen. Plötzlich stoßen im Gefängnis die seltsamsten Typen aufeinander und müssen erst mit ihren neuen Rollen klar kommen. In der sogenannten Freiheit draußen werden indessen die offenen Rechnungen beglichen.

Gioaccino Criaco erzählt einen Teil der Geschichte Kalabriens aus der Sicht der Welt-Underdogs, die sich schwarze Seelen nennen. Wie ein Ethnologe erklärt er die diversen Bräuche und Rituale, die sich bei der Mafia ähnlich logisch aufgestaut haben wie in der Kirche. Noch dazu sind Rituale nie logisch, sondern immer der Ausdruck eines Kampfes, den man in seiner Vollfassung nicht noch einmal ausfechten möchte.

Ich hatte immer eine Causa erfunden, für die ich kämpfen musste, mit deren Hilfe ich die anderen an mich band. Im Grunde genommen war ich jedoch ein Gefangener meiner Ängste, ein Hüter des schlechtesten Teils einer Kultur, die bald keinen Sinn mehr ergeben würde. (152)

Der Roman reißt den Leser immer wieder auf die Seite des Verbrechens, so logisch wird diese Kultur erzählt. Dabei sind „Schwarze Seelen“ ein Mafia- und Antimafia-Roman in einem. In anderen Gegenden würde man Aufsteiger- oder Bildungsroman dazu sagen. Die Buddenbrooks sind ja auch nichts anderes als ein Mafia-Roman, nur eben mit größeren Nasenlöchern erzählt.

 

Gioaccino Criaco, Schwarze Seelen. Roman. A. d. Ital. von Karin Fleischanderl [Orig.: Anime Nere; Milano 2008]
Wien, Bozen: folio 2016, 229 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-85256-684-9

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Gioaccino Criaco. Schwarze Seelen
Wikipedia: Gioaccino Criaco

 

Helmuth Schönauer, 24-03-2016

Bibliographie

AutorIn

Gioaccino Criaco

Buchtitel

Schwarze Seelen

Originaltitel

Anime Nere

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Karin Fleischanderl

Seitenzahl

229

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-85256-684-9

Kurzbiographie AutorIn

Gioaccino Criaco, geb. 1965 in Africo / Kalabrien, lebt in Africo.