Georg Jäger (Hrsg.), Melachgeflüster

Kluge Täler geben dem Hauptfluss immer einen anderen Namen als dem Tal selbst, so können Feinde abgewehrt werden, indem man sie verschickt. Wenn jemand nämlich fragt, wo die Sellrain fließt, kann man ihn verschicken, im Sellraintal nämlich fließt die Melach.

Georg Jäger hat das Raunen und Ächzen, das Rumpeln und Schottern der Melach ausgegraben, wie es zwischen 1800 und der Zwischenkriegszeit in Sagen transportiert, mündlich überliefert oder in Lokalzeitungen zum Vorschein gekommen ist.

Denn an diesem Fluss, der die Grenze zwischen Ober- und Unterinntal markiert, ist immer etwas los. Einen Auto-Steinwurf entfernt liegt die Großstadt mit ihren großstädtischen Kopfträgern, einen Felssturz weit Berg-einwärts tut sich eine sagenhafte Bergwelt auf, deren Bewohner einen eigenen Schöpfungsbericht mit sich herumtragen. Nicht fehlwitzig hat ein Leser dieses fetten „Melachgeflüsters“ dieses mit der Ilias verglichen, eine Schotterpartie, die es mit dem alten Homer durchaus aufnehmen kann.

Das Lesebuch ist mit umfangreichem Bildmaterial ausgestattet, um die Fotos vom kargen Überlebenskampf herum sind Geschichten der Besiedlung, die Träume des Alltags und die Auseinandersetzung mit den ersten „Fremden“ gruppiert.
„Was die Schule anbelangt, so kann man freilich von einem Lehrer, der, um nicht zu verhungern, Sommers als Geishirt herumstrolcht, wie etwa im Sellrain, nicht viel erwarten.“ Der Schriftsteller Adolf Pichler fasst den fatalen Zusammenhang zwischen Natur, Bildung und Überlebenskampf grotesk kurz zusammen. (571)

Diese Reduktion auf Elementarerlebnisse und Binsenweisheiten des Überlebens zieht sich durch die Abteilung Chronik, wenn sich auf jeder Seite jemand verletzt, das Handwerk tödlich wird, und die Aufregung über die Stille zum Exitus führen kann. In einer schönen Sequenz stirbt beispielsweise jemand nach einem sogenannten Hoangart auf dem Bankl an einem Schlaganfall. Niemand vermag sich vorzustellen, welches Gespräch zum Tod geführt hat.

Auf der anderen Seite sind die Bewohner durchaus von Hormonen besetzt und der Erotik fähig, zumindest in ihren Phantasien. Mitten in der Melach gibt es einen Stein, auf dem sich in der Gischt des Morgens manchmal eine Jungfrau räkelt. Dieses Melacher Meerfräulein soll es durchaus mit der Meerjungfrau in Kopenhagen aufnehmen können, bestätigen Experten dieser Glücksvorstellungen.

Der Wunsch, wenn schon nicht aus dem Tal, so zumindest aus der eigenen Haut hinauszukommen, treibt die Bewohner immer wieder dazu, seltsame Kräuter zu sammeln und den Sud zu trinken. Von einem flächendeckenden Schwindelanfall berichten natürlich die Lokalnachrichten. (109)

Interessant ist auch die Kapiteleinteilung, worin Fischerei, Jägerei und Wilderei auf eine Ebene gestellt werden. Kriegerische Ereignisse führen zu Schützen und Veteranen, Lehrer, Talente und Künstler bereichern das Tal, in das schließlich Badegäste, Fremde und Stadtler strömen. Was Weltkrieg wirklich heißt, zeigen die Gendenktafeln, auf denen die Namen der Gefallenen zumindest im Dorf für die Ewigkeit gerettet werden.

Georg Jäger hat diese Jahrhundertgeschichten elegant den schlummernden Chroniken entrissen und für die Gegenwart aufbereitet, gute und schlechte Geschichten sind gerecht verteilt, nichts wird besserwisserisch oder moralisch kommentiert, die Texte sprechen für sich und der Herausgeber ist der erste, der vor ihnen ehrfurchtsvoll in die Knie geht oder hellauf lacht. Melachgeflüster ist letztlich ein fröhliches Buch, in dem es viel über den Abwehrkampf des Alltags zu lachen gibt.

Georg Jäger (Hrsg.), Melachgeflüster. Allerlei Geschichten und Nachrichten aus dem Sellraintal. Ein historisches Lesebuch für Einheimische und Gäste
Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2016, 672 Seiten, 39,90 €, ISBN 978-3-7030-0945-7

 

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Universitätsverlag Wagner: Georg Jäger (Hrsg.), Melachgeflüster

 

Helmuth Schönauer, 14-11-2016

Bibliographie

Buchtitel

Melachgeflüster. Allerlei Geschichten und Nachrichten aus dem Sellraintal. Ein historisches Lesebuch für Einheimische und Gäste

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Universitätsverlag Wagner

Herausgeber

Georg Jäger

Seitenzahl

672

Preis in EUR

39,90

ISBN

978-3-7030-0945-7

Kurzbiographie AutorIn

Georg Jäger ist Univ.-Doz. für translationsrelevante Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck.