Anna Xiulan Zeeck, Jener Sommer
„Nur Erwachsene konnte sie zu dieser frühen Stunde noch nicht in den Anlagen entdecken. Es war ein vertrautes Bild, so wie sie es jeden Tag sah. Dabei fiel ihr der Spruch ein, der besagte, dass heutzutage chinesische Schüler den schwersten Beruf ausübten. Gemeint war, dass sie als Letzte zu Bett gingen und als Erste aufstehen mussten.“ (46)
Die zwölfjährigen Shuya, Hanshan und der dreizehnjährige Wenhua besuchen eine sogenannte Superschule, aus denen der größte Prozentsatz an Schülerinnen und Schülern hervorgeht, der die städtische Zentralprüfung zur Oberstufenschule schafft. Die Oberstufe wiederum ist das Sprungbrett an die Universität, die in China eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben darstellt.
Anna Xiulan Zeeck erzählt am Beispiel der letzten Tage dreier Schulkinder vor der großen Zentralprüfung, welchem unmenschlichen Druck Kinder und Jugendliche während ihrer gesamten Schulzeit ausgesetzt sind. Lediglich die Hälfte der Unterstufenschüler wird in die Oberstufe aufgenommen, womit ein gnadenloser Konkurrenzkampf gegen die eigenen Mitschüler in Gang gesetzt wird, dem Solidarität, Mitgefühl und Freundschaft zum Opfer fallen.
War das System im späten 20. Jahrhundert eingeführt worden, um auch Kindern aus armen Familien den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, hat das System eine neuerliche Benachteiligung der sozial schwachen Teile der Bevölkerung bewirkt, die sich keinen teuren Nachhilfeunterricht leisten können, um die gewünschten Testergebnisse zu erreichen. Zur „Motivation“ der Schüler werden die Testergebnisse und Ranglisten der Schüler öffentlich ausgestellt, was den sozialen Druck auf die einzelnen Schüler zudem erhöht.
Shuya kommt im Gegensatz zu ihrem Freund Wenhua aus einer armen Familie, die mit allen Mitteln versucht, die schulischen Leistungen ihrer Tochter zu fördern. Shuya und Wenhua verbindet eine heimliche Liebe, die sie einander aber nicht eingestehen, doch versorgt Wenhua, der zu den besten Schülern seines Jahrgangs gehört, sie mit teuren Übungstests aus seinem Nachhilfeunterricht, um sie in der Schule zu unterstützen.
Trotz intensiven Lernens, oft bis spät gegen 23 Uhr, hat Shuya Angst bei der bevorstehenden städtischen Zentralprüfung zur versagen und nicht mehr weiter mit Wenhua die Oberstufe besuchen zu dürfen. Shuas Freundin Hanshan ist die Tochter eines einflussreichen Parteifunktionärs und ebenfalls in Wenhua verliebt, den sie mit besonders guten Testergebnissen beindrucken möchte, um ihn für sich zu gewinnen. Am Ende sind nicht alle dem Druck der großen Zentralprüfung gewachsen, was bei manchen zum Nachdenken über das Leben eines Schülers und zu einer wichtigen Entscheidung führt.
Mit unaufgeregt und mit ruhigen Worten schildert Anna Xiulan Zeeck das Alltagsleben chinesischer Schülerinnen und Schüler, denen durch den ungeheuren Leistungsdruck, dem sie vom ersten Schultag ausgesetzt sind, praktisch eine unbeschwerte Kindheit und Jugend geraubt wird. Gefördert wird der egoistische Konkurrenzkampf, während Nächstenliebe, Mitgefühl und Solidarität auf der Strecke bleiben.
Ein überaus empfehlenswertes Buch in dem aufgezeigt wird, was mit einer Gesellschaft passiert, wenn nur noch staatliche oder wirtschaftliche Interessen das Schulleben bestimmen und die Wünsche und Bedürfnisse von Kindern ignoriert werden. Die bewusst ruhige und zurückgenommene Erzählweise vermittelt die Normalität eines durch und durch kinderfeindlichen Systems und stellt einen scharfen Kontrast zu den aufgezeigten Missständen dar. Die Kritik am Schulsystem wird geschickt in Wenhuas Antrag auf Entlassung aus der Schule untergebracht. Ein überaus lesenswertes Buch, das nicht nur Kinder und Jugendliche zu beeindrucken vermag.
Anna Xiulan Zeeck, Jener Sommer. Ill. v. Hannes Klement, ab 10 Jahren
Oldenburg: Desina Verlag 2017, 135 Seiten, 14,30 €, ISBN 978-3-940307-31-6
Weiterführende Links:
Desina Verlag: Anna Xiulan Zeeck, Jener Sommer
Wikipedia: Anna Xiulan Zeeck
Andreas Markt-Huter, 09-08-2018