Fantastische Kinderliteratur seit den 70er Jahren

Die antiautoritäre Bewegung mit der Hoffung auf einen gesellschaftlichen Wandel scheiterte. Dieses Scheitern ist die Ursache für die Hinwendung zum fantastischen Erzählen, weg von der sozialkritischen Kinderliteratur.

Kinder sehen in ihren Spielsachen, Kuscheltieren oft beseelte Wesen, die ihnen Trost, Kraft oder Mut geben. Es können auch durchaus aus harmlosen Dingen böse Monster oder Geister werden. Daher ist es leichter problematische Erfahrungen, speziell innerhalb der Familie, durch fantastische Erzählungen zu thematisieren und reflektieren. Innerhalb des Fantastischen fällt es auch leichter, Lösungsmöglichkeiten anzubieten, wie beispielsweise Astrid Lindgrens Werk Mio, mein Mio (1953/54), welches von einem auswegslosen Pflegekind handelt, der durch einen magischen Apfel und einen Flaschengeist in eine Fantasiewelt eintauchen kann, in der sein Vater König ist. Ebenso eine Trostfunktion übernimmt das Werk Die feuerrote Friederike von Christine Nöstlinger (1970). Die dicke rothaarige Außenseiterin findet durch ihre neuen magischen Fähigkeiten Trost.

Wir pfeifen auf den Gurkenkönig

In den 70er Jahren wird der Entwurf fantastischer Welten als ideologisch abwertend und entwicklungsgefährdend betrachtet, da er der Entwicklung des realen Weltbildes im Wege steht. Dies gilt für fantastische Erzählungen ebenso wie für die Gattung der Märchen. Daher finden sich Anfang der 70er Jahre viele Adaptionen, die beispielsweise Grimms Märchen für das Denken der antiautoritären Bewegung kompatibel machen wollen. Hierzu gehören auch fantastische Kinderromane, die Elemente aus einer fantastischen Welt verwenden, um die Gesellschaft kritisch zu betrachten. Eine fantasievolle Erzählung von Christine Nöstlinger zur Demokratisierung der Familie ist Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972). Dieser Klassiker erzählt von einem Gurkenkönig, der aufgrund einer Revolution aus seinem Reich fliehen muss und nun um Asyl bei der Familie Hogelmann bittet. Der Vater hält zu dem herrischen König, was Turbulenzen innerhalb der Familie führt. Die Familie wendet sich immer mehr vom autoritären Vater ab. Dieses Werk ist ein Beispiel für eine realistische Fantasieerzählung, da es sich auf ein fantastisches Wesen innerhalb einer realitätsnahen Welt beschränkt.

Oh, wie schön ist Panama

Die Trendwende weg von allgemeiner Problemlösung hin zum Einzelnen und seinen persönlichen Beziehungen und subjektiven Problemen ist im Kinderroman Eine Woche voller Samstage von Paul Maar (1973) wiederzufinden. In dieser Erzählung ernennt die Fantasiegestalt Sams den schüchternen Herrn Taschenbier zu seinem Papa. Es werden Liebe und Kreativität als menschliche Potentiale gesehen, und Intuition wird wieder aufgewertet. Dieses Werk kennzeichnet auch in medialer Hinsicht eine Trendwende. Aus der Kerngeschichte Eine Woche voller Samstage wurden ein Computerspiel (1998) erstellt und ein Kinofilm (2008) gedreht. Mit der Hinwendung auf das Individuum ist auch eine Steigerung der Wertigkeit der Ästhetik verbunden. Ein Beispiel dafür sind im Bereich der Illustration die Klassiker von Janosch, wie OH, wie schön ist Panama (1978). Diese Geschichten um den kleinen Tiger und den kleinen Bär zeigen eine idyllische Welt, die immer wieder auf fundamentale Werte verweisen. Die kräftigen Aquarelle sind sehr populär und lassen sich auch als Plüschtiere oder Alltagsgegenstände für den Gebrauch der Kinder vermarkten.

Momo

Der Klassiker Momo (1973) von Michael Ende schildert eine Parallelwelt, in der die Menschen noch Zeit füreinander haben und kreativ sein können. Momo, ein Mädchen aus dem Nirgendwo, das seiner Umgebung durch besonders intensives Zuhören Gutes tut. Bald wird diese Idylle durch das Auftauchen der grauen Herren gestört. Momo stellt sich nun dem Kampf mit dem Bösen.

Bruno Bettelheim

In den späten 70er Jahren wird die Berechtigung und Notwendigkeit von fantastischen Erzählungen aus tiefenpsychologischer Seite bestärkt. Bruno Bettelheim beschreibt in seinem Buch Kinder brauchen Märchen (1977), dass fantastische Erzählungen entwicklungsbedingte Ängste thematisieren. Unter dem Deckmantel der Fantastik können Ängste ausgemalt und anschließend gebannt werden. Das charakteristische Handlungsschema der Märchen ermutigt zur Konfrontation mit beängstigenden Mächten in der Gewissheit ihrer möglichen Überwindungen.

Die unendliche Geschichte

Ende der 70er Jahre hat sich das Lesepublikum bereits für das Bestehen des fantastischen Kinderbuchs neben dem realistischen Roman entschieden. Die Bedürfnisse des Eintauchens in eine fiktive Welt wird durch Die unendliche Geschichte von Michael Ende befriedigt, was diese Geschichte zum unmittelbaren Verkaufserfolg macht und auf die Bestsellerliste des Spiegels bringt. Bastian, ein dicker, blasser Grundschüler, liest ein Buch über das Königreich Phantásien, und immer mehr und mehr verliert er sich in dieser Geschichte. Er stellt sich den Herausforderungen und tritt in die fantastische Welt ein, wo er ein mutiger Märchenheld wird. Doch als er seine ursprüngliche Identität beinahe vergisst, gerät er an unüberwindbare Grenzen, die seinen Reifeprozess einleiten. Als blasser, dicker Junge, nicht als Held, kehrt er in seinen Alltag zurück. Er ist jedoch an Erfahrungen reicher und mutiger geworden, als vor dem Ausflug in das Reich Phantásien.

Gudrun Pausewang

In den 80er Jahren wird durch ein Werk Benno Pludras, Das Herz des Piraten (1985), ein weiterer Schritt zur modernen Mehrdeutigkeit getätigt. Das 11-jährige Mädchen Jessica findet einen Stein, der seine innersten Gedanken lesen kann. Im Dialog mit dem Stein wird er warm, und er beginnt zu leuchten. Jessica gerät in Berührung mit einer längst vergangenen Piratenwelt. Der Stein ist ihr Gesprächspartner und Vaterersatz. Durch den intensiven Kontakt mit dem Stein isoliert sie sich immer mehr von ihrem Umfeld. Eines Tages taucht ihr lang ersehnter Vater wieder auf. Jessica wird bald klar, dass das Familienleben mit ihrem Vater nicht möglich ist und lässt ihn ziehen. Sie wirft auch den Stein zurück ins Meer, um zur Ruhe zur kommen. Aus der Sicht des Mädchens erzählt, lassen sich die Dialoge mit dem Stein auch als innere Monologe lesen. Dadurch gilt dieses Kinderbuch als fantastischer Roman, der sich auf moderne Erzähltechniken begibt. In der niedergehenden DDR wurden Themen wie Vatersehnsucht des Trennungskindes thematisiert, in der Kinderliteratur der BRD konzentrierte man sich auf sozialkritische Themen wie atomare und ökologische Bedrohung. Gudrun Pausewang schrieb in dieser Zeit Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987). Beide Romane wurden zur Klassenlektüre. Sie müssen als Grenzfall der fantastische Kinderliteratur angesehen werden, da die Autorin nicht subjektiv-selbstbezogene Wünsche oder Ängste thematisiert, sondern die möglichen Folgen eines Atomangriffs bzw. Reaktorunfalls sehr drastisch erzählt. Pausewang schreibt schockierend und im Widerstand zur Nutzung der Atomkraft. Erst die Abenteuer und die beruhigende Wirkung einer intakten Familie machen die Bücher für Kinder lesbar.

Cyberspace

Endgültig etabliert hat sich die fantastische Kinder- und Jugendliteratur in den 90er Jahren. Einerseits gilt dies für das klassische Muster des fantastischen Erzählens, wie es erstmals im Kunstmärchen entwickelt wurde. Die kindliche Zentralfigur bewegt sich neben der Alltagswirklichkeit auch in einer fantastischen Welt voller Magie, die sich aus individueller Fantasie, Mythen und Märchen des Abendlandes zusammensetzt und in der eigene Normen und Werte gelten. Dieses Muster wird in neuen Varianten und Variationen wirksam. Wie beispielsweise die in den 90er Jahren entstandenen Cyberspace-Novels, die eine literarische Antwort auf das neues Medienzeitalter sind. Hier werden die fantastischen Ereignisse nicht durch magische Kräfte, sondern durch den Einsatz von aktuellen Medien beschrieben, wie beispielsweise Karo, die Computerhexe (1997) von Eva-Maria Lamprecht.

Harry Potter

Eine neue Ära der Lesebegeisterung entstand durch Joanne K. Rowling und ihrn sieben Harry-Potter Romane. Alle Bände handeln von dem Waisenjungen Harry, der schon als kleines Kind dem Tod ins Auge sieht und unter ärmlichen Verhältnissen bei nicht liebenden Verwandten aufwächst. An seinem zehnten Geburtstag erfährt er, dass er ein Zauberer ist und der größte Feind des schwarzes Magiers Lord Voldemort. Das Zentrum der magischen Welt liegt im Internat Hogwarts, dem Ort, an dem die jungen Zauberer ausgebildet werden. Es entsteht eine Parallelwelt zwischen der Alltagswelt und Hogwarts, in denen sich die Zauberer hin und her bewegen. Es geht in Hogwarts nicht nur darum, schulisch auf Fordermann gebracht zu werden. Harry wird durch zahlreiche magische Abenteuer, die er mit Mut, Ehrlichkeit und Solidarität besteht, in seiner Persönlichkeit gestärkt. Hier werden klassische Märchenmuster sichtbar. Es werden dem Helden Aufgaben gestellt, die ihn in schwierige Situationen bringen, er sie jedoch zu bestehen vermag und dadurch reich belohnt wird. Zudem wird das Prinzip der Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung in diesen Romanen sichtbar. Die Harry-Potter-Serie ist nicht von einem einfachen Gut-Böse-Schema gekennzeichnet. So bekommt Harry immer die Erlaubnis Grenzen zu überschreiten, Erfahrungen zu sammeln, deren Konsequenzen er in jeder Hinsicht zu spüren bekommt. Die Harry-Potter-Reihe vermittelt individuelle Selbstfindung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt. Trotz der mitteralterlichen Kulisse in Hogwarts weist die Roman-Reihe einige Parallelen bzw. Ähnlichkeiten mit realen Verhältnissen auf, mit denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen. Eine Erklärung für den großen Erfolg der Harry-Potter-Serie liegt bestimmt in der gegebenen Möglichkeit reales Erleben im fantastischen Raum wiederzufinden und dabei gleichzeitig durch die Fiktion geschont zu werden. Eine weitere Stärke der Harry-Potter-Serie liegt darin, dass die Autorin gekonnt die wichtigsten Figuren und Ereignisse bereits im ersten Band bis ins Detail beschreibt. Metaphern und Symbole runden die Roman-Reihe ab. Neben dem Klassiker Harry Potter erscheinen seit den 90er andere Fantasy-Serien, die durchaus eine große Lesegruppe ansprechen. Ein Beispiel dafür ist die Eragon-Reihe (seit 2003) von Christopher Paolini.

Belgische Riesen

Durch die Harry-Potter-Serie findet die fantastische Kinder- und Jugendliteratur endgültig Anerkennung. Fantasy-Bücher bieten Abenteuer, Action, Unterhaltung, gehen aber ebenso auf Lebensfragen und Alltagsprobleme ein, wenn auch nur in symbolischer Form. Der Roman Belgische Riesen (2000) von Burkhard Spinnen zeigt, dass Fantasy durchaus die Realitätsbewältigung unterstützen. Dieser Roman zeigt Probleme eines Scheidungskindes. Der Junge Konrad kommt in die Situation, seine Freundin Fridz bei der Bewältigung der Trennung ihrer Eltern zu unterstützen. Dabei hilft ihm vor allem die fantastische Gute-Nacht-Gesichte, die sein Vater den Kindern erzählt. Der Vater greift Ideen der Kinder auf, sodass Fragen und Ängste der Kinder durch den Schonraum der Fiktion behandelt werden können. In dieser Welt können Problemlösungen erprobt, verworfen und verbessert werden. Am Ende haben beide Kinder in puncto Streitkultur dazugelernt.

Tintenherz

Elemente des postmodernen Erzählens greift der Roman Tintenherz (2003) von Cornelia Funke auf, die auch als deutsche Joanne K. Rowling gepriesen wird. Dieser Band wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet. 2005 folgte der zweite Band Tintenblut, 2007 der letzte Band der Trilogie, Tintentod. Diese Roman-Reihe ist in erster Linie eine Liebeserklärung an das Buch und allen Künsten, die damit im Zusammenhang stehen. Die fiktiven Welten der Bücher können einzig durch gekonntes Vortragen Wirklichkeit werden. Im ersten Band dominiert die Alltagswirklichkeit, im zweiten Band entführt Funke in eine mittelalterliche Welt voller Wunder und Schrecken. Unterschwellig werden hierbei auch Jenseitserfahrungen thematisiert. In dieser fiktiven Welt erwarten die Hauptfigur Maggie Ängste vor Verlust und Tod, welche dennoch immer wieder abgewehrt werden können. Maggie erfährt wie Figuren aus der Fiktion in die Realität schlüpfen können und reale Menschen im Gegenzug dazu in das Buch gesogen werden. Funkes Trilogie ist verziert und illustriert und mit Zitaten aus anderen Büchern, am Beginn jeden Kapitels, versehen. Durch die scheinbare Auflösung der Grenzen zwischen Fiktion und Realität besteht der postmoderne Charakter der Tintenwelt-Trilogie. Das gute Ende zeigt, dass man auf die Rückkehr in die Alltagswelt vertrauen soll. Hier reiht sich die Trilogie in eine lange kinderliterarische Tradition ein, die letztendlich an der Wirklichkeit orientiert ist.

 

Quelle:
NICKEL-BACON Irmgard (o.J.): Fantastische Literatur. In: WILD Reiner [Hg.]: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart.393 - 405

 

Quelle oder Autor/-in: Sabrina Schmiderer (RE)

Redaktionsbereiche