Margret Kreidl, Zitat, Zikade

Margret kreidl, zitat zikadeJeder Satz ein Zitat, jedes Wort eine Inschrift, jedes Werk eine Gattung. Wie in einem Schriftbild sind die Unter- und Oberlängen so lange zugespitzt, bis sie den Zeichen einen Sinn geben.

Margret Kreidl hat die Überschrift für ihr solitäres Werk raffiniert gewählt, es geht um die Nebengeräusche von Zitaten, das Fallbeispiel, das eine Zikade sein kann, und um den Hinweis zu den Sätzen, den wir vom Bahnhof her kennen wo es heißt, zu den Zügen.

Als Leser tut man gut daran, möglichst viele Erscheinungsformen von Literatur schon einmal gesehen zu haben, damit einem ein gewisser Aha-Effekt beim Lesen weiterhilft. Aber man sollte nichts als selbstverständlich nehmen, denn alles kann etwas Anderes sein.

Nach der Theorie der Listen, wonach Listen die höchste Form der Poesie und der Bürokratie sein können, ist die Liste eine Erzählung aber nicht umgekehrt. (72) „Ich habe angefangen, Material zu schreiben für ein Inhaltsverzeichnis“, schreibt eine schreibende Hand und baut rund um dieses Verzeichnis eine Erzählung.

Während das Erstellen einer Liste vor allem ein zeitlicher Vorgang ist, indem die einzelnen Begriffe wie Tropfen in das Auffangbecken der Liste fallen, geht es in der Architektur der Erinnerung (22) um eine räumliche Zuteilung von Handlung. Am ehesten lässt sich diese Methode mit dem Entwickeln eines Drehbuchs vergleichen, wenn an den Standorten der Kamera bereits Fotos als Vorausahnung eingeklebt werden. Jemand erinnert sich an Gegenstände, Häuser oder Interieurs der Kindheit und platziert die Schlüsselwörter als eigene Erzählentwürfe neben den Text. Während es im Fließtext um ein Holzhaus geht, ist seitlich die genaue Adresse angefügt, an anderer Stelle tritt eine Eckbank aus der Polsterung des Erinnerns hervor, der Begriff Mietwohnung bläst sich wie selbstverständlich auf 40 qm auf.

Viele Texte sind Analyse-Versuche anderer Texte, Wörter im Schrank etwa, Roman ohne Held, Der Schreibtisch ist mein Küchentisch. Dabei werden Schlüsselbegriffe von Aichinger, Brecht, Mayröcker oder Rilke in einen neuen Zusammenhang gesetzt um zu schauen, ab wann etwa der Brecht-Begriff ins Allgemeine umkippt. Am Beispiel von Brecht wird die alte vom Vater braun tapezierte Wand mit frisch geschriebenen Brecht-Abschriften tapeziert.

Mitten im Lesen schreiben wir, heißt eine Erfahrung, bei der ein neuer Text entsteht, dessen Urheber plötzlich zwittrig werden. Zitat, Metaebene und Schreib-Situation können nicht mehr auseinandergehalten werden und werden als Glücksgefühl empfunden.

Ich schreibe mich ja aus dem Lesen heraus wieder ins Lesen hinein. (108)

Margret Kreidl entwickelt einen eigenen Literaturkosmos, mal schreibt sie dabei über uns Leser, mal nimmt sie uns an der Hand und mit vor ein Bild, das gerade bearbeitet wird, mal weiß sie unsere Träume, noch ehe wir sie geträumt habe. Wir Leser sind die Hauptdarsteller dieser großen Symphonie aus Lektüre, Sprachspiel und Schreiben.

Margret Kreidl, Zitat, Zikade. Zu den Sätzen
Wien: Edition Korrespondenzen 2017, 140 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-902951-26-7


Weiterführende Links:
Edition Korrespondenzen: Margret Kreidl, Zitat, Zikade
Wikipedia: Margret Kreidl

 

Helmuth Schönauer, 11-03-2017

Bibliographie

AutorIn

Margret Kreidl

Buchtitel

Zitat, Zikade. Zu den Sätzen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Korrespondenzen

Seitenzahl

140

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-902951-26-7

Kurzbiographie AutorIn

Margret Kreidl, geb. 1964 in Salzburg, lebt in Wien.

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