Lisa Spalt, Die zwei Henriettas

lisa spalt, die zwei henriettasFrei komponierte Romane haben für den Leser den Vorteil, dass sie auf unterschiedliche Weise gelesen werden können und der Leser mit seiner Sichtweise immer recht hat. Diese offene Erzählform gibt letztlich nur ein paar Laserstrahlen vor, an denen bei jedem Lesevorgang die Episoden neu ausgerichtet werden müssen.

Lisa Spalt setzt mit den zwei Henriettas ihren Heldinnen ein Denkmal, das auf jeder Seite neu zusammengesetzt wird. Im Hintergrund agiert eine Erzählerin, Layouterin oder Forscherin, die aus einem Berg von Fotomaterial etwas Brauchbares gestalten will.

„Begutachtung des heutigen Fanges“ heißt eine Überschrift, mit der eine Tagesration von Überlegungen abgearbeitet werden soll. Aus dem Nachlass eines Verwandten ist ein gewaltiger Foto-Berg ausgebreitet, aus dem sich die Figur einer Henrietta herauspixeln lässt. Offensichtlich ist das meiste Material schon verpixelt, die Figur sitzt auf einem JPEG-Sofa (27) und wartet, dass sich eine Geschichte daraus entwickelt.

Im ersten Drittel des Romans geht es um Grenzen zwischen digitalen und analogen Erfahrungen, um das Rätsel der Vorfahren, die immer eine eigentümliche Geschichte schreiben, um historische Fügungen, die durchaus falsch ausgelegt werden können. So vertut sich einmal jemand beim Bloggen und schreibt:

„Danke, lieber Terrorist, dass du mich angreifst.“ (9)

Allmählich tut sich eine Vergangenheit auf, die zumindest für die Diskussion geeignet ist. „Wir nähern uns den Fakten, wir nähern uns der Welt.“ Im Mittelpunkt steht dabei eine Henrietta, die von 1905 bis 1999 gelebt hat und in Westcliffe Colorado auf die Welt gekommen ist. Sie entstammt offensichtlich einem Treck aus blonden deutschen Frauen, die im 19. Jahrhundert mit großen Bravorufen den vorausgeeilten Siedlern nachgeführt worden sind.

Ab jetzt spaltet sich der Roman in zwei Sichtweisen auf, links in einer Arial-Schrift wird ein Spiel angeleiert, das sich die Mission / Baufolgen nennt. Rechts in einer Times Roman heißt das Spiel die beiden Henriettas / Die Mission.

Während das Lese-Auge beide Stränge zusammenzuführen versucht, entsteht etwas 3-D-Artiges, das den Bauplan der Konstruktion und seine Story wechselseitig vorantreibt. Heldinnen dieser Sichtweisen sind die beiden Henriettas, die sich in verschiedene Zeitgenossinnen aufspalten und alternative Handlungen setzen, ohne sich deshalb auszulöschen oder zu übertünchen.

Nicht immer lässt sich aus dem Material gleich etwas Stimmiges folgern, ein Kanaldeckel aus Denver (93) kann als Begleiter, Hindernis oder Stolperstein auf dem Weg nach Westen gedeutet werde. Zu diesem Kanaldeckel haben eine Menge Leute Zugang und es ist gar nicht einfach, eine Konnotation der Henriettas herzustellen. An anderer Stelle holt sich Henry Kissinger einen Popel aus der Nase und frisst auf dem darunterliegenden Foto etwas. Die Fotofolge bietet zwar eine Logik des Handlungsablaufs an, es kann aber auch etwas ganz Anderes gemeint sein.

Am Schluss ist man als Leser eingekesselt von Gliedmaßen, historischen Farben, Fragmenten, Andeutungen und Überlieferungen, die alle danach schreien, in ein fixes Bild eingebaut zu werden, um diese Odyssee zu beenden.

Lisa Spalt, Die zwei Henriettas. Eine Odyssee
Wien: Czernin Verlag 2017, 143 Seiten, 18,90 €, ISBN 978-3-7076-0598-3


Weiterführende Links:
Czernin Verlag: Lisa Spalt, Die zwei Henriettas
Wikipedia: Lisa Spalt

 

Helmuth Schönauer, 07-05-2017

Bibliographie

AutorIn

Lisa Spalt

Buchtitel

Die zwei Henriettas. Eine Odyssee

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Czernin Verlag

Seitenzahl

146

Preis in EUR

18,90

ISBN

ISBN 978-3-7076-0598-3

Kurzbiographie AutorIn

Lisa Spalt, geb. 1970 in Hohenems, lebt in Linz.