Melanie Hollaus / Heidi Schleich (Hrsg.), Bocksiedlung

melanie hollaus, bocksiedlungDer Ruf einer Gegend ist immer stark Kapital-abhängig. Solange die Stadt einen Stadtteil sich selbst überlässt, tut sie alles, um die Gegend schlecht zu reden, damit niemand dort Investitionen verlangt. Sobald man ein Geschäft mit der Entlegenheit wittert, redet man den Stadtteil schön und schreit insgesamt nach Olympischen Spielen. Generell lässt sich sagen, eine Gegend ist umso mieser, je weniger Politiker dort wohnen, um das Elend zu sehen.

Melanie Hollaus und Heidi Schleich gehen ähnlichen Phänomenen nach, wenn sie sich um die legendäre Bocksiedlung im Osten Innsbrucks Erinnerungs-technisch kümmern. Da in Innsbruck seit Menschengedenken Wohnungsnot herrscht, lassen sich in den 1930er Jahren auf freiem Feld ein paar Familien nieder, woraus dann die Bocksiedlung entsteht, die um 1970 geschleift wird.

Gerüchtehalber soll der erste Wohnwagen bloß falsch abgestellt worden sein, eigentlich hätte sich das ganze weiter südlich in einem Steinbruch abspielen sollen. Über die Bocksiedelung gibt es jede Menge Gerüchte und Geschichten, aber wenig gesicherte Dokumente, weil die Stadt selbst ständig zwischen Duldung und Erleichterung dem Phänomen „Bock“ gegenübergestanden ist. Dieser Jott Bock ist anerkannter Fuhrwerker, der sich unter anderem um den Abtransport des Biomülls aus den Gastwirtschaften kümmert.

In dutzenden Interviews, Erinnerungs-Spots und Tagebuchnotizen entsteht allmählich eine Ahnung vom Soziotop, das eigenen Gesetzen gehorcht hat. Da hängen einmal Sandsäcke an der Wäschestange, weil die Kids anerkannte Boxer sind, an anderer Stelle wird Menschen in Not geholfen, indem man ihnen Unterschlupf gibt, und legendär ist ein Polizeieinsatz weit außerhalb des Geländes, wo sich beim Eintreffen der Polizei die kämpfenden Fäuste verbünden und gegen die Uniformierten losgehen. Anderntags beklagt die Exekutive, sie hätte nicht schießen können, weil so viel lachendes Publikum anwesend gewesen sei.

Auch architektonisch spielt sich in der Bocksiedlung alles ab, einer hat bis zu vier Stockwerke in Lego-Formation auf das jeweils letzte Dach geklebt, eine andere Familie muss in einem aufblasbaren Faltkarton wohnen, der bei Föhn manuell gesichert wird.

Die Historikerin Andrea Sommerauer geht in ihrem Essay der Frage nach, wie man über ein Gebilde berichten soll, das nie eine Innensicht zulässt. Sie stellt die Bocksiedlung auch in Vergleichsdistanz zu anderen Randsiedlungen, die teilweise in Selbstverwaltung oder als Selbsthilfegruppe entstanden sind.

Aus heutiger Sicht ist die Bocksiedlung ein mündliches Erzähldenkmal, über das alle berichten können, die es geschafft haben, weil sie die Siedlung nur von außen umrundet haben.

Für Stadtteilinitiativen und diverse Wohnprojekte könnte die Bocksiedlung freilich noch Jahrelang Pate stehen.

Melanie Hollaus / Heidi Schleich (Hrsg.), Bocksiedlung. Ein Stück Innsbruck, Fotos
Innsbruck: Studienverlag 2017, 184 Seiten, 24,90 €, ISBN 978-3-7065-5573-9

 

Weiterführender Link:
Studienverlag: Bocksiedlung

 

Helmuth Schönauer, 30-05-2017

Bibliographie

Buchtitel

Bocksiedlung. Ein Stück Innsbruck

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Studienverlag

Herausgeber

Melanie Hollaus / Heidi Schleich (Hrsg.)

Seitenzahl

184

Preis in EUR

24,90

Kurzbiographie AutorIn

Melanie Hollaus, geb. 1980 in Rum, lebt in Wien und Tirol.

Heidi Schleich, geb. 1965 in Zams, lebt in Innsbruck.