Sophie Reyer, Schildkrötentage

sophie reyer, schildkrötentageDie elementarsten Veränderungen geschehen über Nacht: Du schaust beim Zähneputzen in den Spiegel und siehst, dass du ein anderer Mensch geworden bist.

In Sophie Reyers Roman „Schildkrötentage“ ist es eine unheimliche Falte um die Mundwinkel, die der Heldin Flora das Gesicht einfrieren lässt. Das Gesicht ähnelt einer Schildkröte. Und gleichzeitig merkt die Ich-Erzählerin, dass sich auch der Rücken verspannt, die Gliedmaßen steif werden und die Haut sich zum Panzer entwickelt. Alles deutet auf das Gregor-Samsa-Syndrom hin, mit dem der Held in einer Kafka-Erzählung als Käfer erwacht.

Wenn die Symptome einer Radikalveränderung einmal da sind, sucht man als sorgfältiger Körperbewohner in allen Erlebnisfeldern, woran es liegen könnte.

Flora erlebt tatsächlich auf wenigen Seiten allerhand Ungemach. Sie verliert den Job, die Wohnungsvermieterin regt sich auf, dass Vögel am Balkon wohnen, dann wird auch noch eingebrochen und die Verstörung ist vollkommen. Und immer wieder kommt die Sehnsucht nach einer Schildkröte durch, die die Heldin als Kind nicht hat haben dürfen.

Mit der Sehnsucht kommen auch ganze Lebensbrocken hoch, ob die Dinge wirklich so zusammenhängen, wie es die Großmutter erzählt hat, ob es wirklich die Aggregatszustände Stein-Tier-Mensch (50) gibt? Und kann man diese Zustände wechseln? Vielleicht gibt es gegen alles eine Operation, aber wenn man die Schildkrötenfalte aus dem Gesicht operiert, ist dann schon alles gewonnen?

Die Therapeuten stellen eine heftige Verknöcherung fest, vielleicht wäre es günstig, das Schicksal anzunehmen und sich in den eigenen Panzer zurückzuziehen. Und in der Presse wird sogar von einer verwundeten Meeresschildkröte berichtet, der man die abgetrennte Flosse mit einer Prothese ersetzt hat und die vielleicht uralt werden wird.

Mitten in dieser Midlife-Krise, in der alles in Frage gestellt oder in harte Panzertatsachen umgewandelt wird, taucht ein fröhlicher Kerl im Stiegenhaus auf. Er ist angeblich aus dem Kosovo, hat aber in Indien Furchtbares erlebt und wird jetzt als Hausmeister angestellt. Er nennt sich Semir, aber bei geheimnisvollen Menschen stimmen oft schon erster Eindruck und Name nicht.

Semir bringt Stimmung in die Bude, Flora weicht auf, sie arbeitet mit Semir, und sei es nur, dass sie das frisch zusammen gerechte Laub wieder verteilt wie der Wind. Einmal in emotionalen Schwung gekommen, klappt es auch mit den Foren im Internet besser, ein gewisser „Kabel“ verspricht Glück und Sonnenschein. Und auch die Lebensweisheiten haben plötzlich Hand und Fuß.

Schildkröten werden alt, weil sie sich die Zeit nehmen. (142)

Aber auch die Heilung muss gelernt sein. Plötzlich taucht wieder die Angst auf, dass Semir vielleicht der „Kabel“ vom Internet ist, und was, wenn alle diese Biographien nicht stimmen? Es bleibt noch viel Arbeit an sich selbst offen.

Sophie Reyer erzählt ein Leben aus der verpanzerten Innensicht, wobei jeder Tag ein Abenteuer werden kann, wenn man den Kopf hinausstreckt. Das Leben als eine Ansammlung von Schildkrötentagen ist mindestens so aufregend wie das sogenannte echte Leben zwischen Cloud und Blackout. Ein schöner Roman über die Langsamkeit der Seele.

Sophie Reyer, Schildkrötentage. Roman
Wien: Czernin Verlag 2017, 248 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7076-0615-7


Weiterführender Link:
Czernin Verlag: Sophie Reyer, Schildkrötentage
Wikipedia: Sophie Reyer

 

Helmuth Schönauer, 07-12-2017

Bibliographie

AutorIn

Sophie Reyer

Buchtitel

Schildkrötentage

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Czernin Verlag

Seitenzahl

248

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-7076-0615-7

Kurzbiographie AutorIn

Sophie Reyer, geb. 1984 in Wien, lebt in Wien.