Ulf Erdmann Ziegler, Schottland und andere Erzählungen

Eine Anfängergeschichte erklärt dir so lange, wer insgeheim wer ist, dass für die eigentliche Erzählung nichts mehr übrig bleibt. Eine professionelle Geschichte setzt mitten im Satz ein und nimmt dich dermaßen heftig mit ins Geschehen, dass es dir als Leser ziemlich Wurst ist, wer insgeheim wer ist.

Ulf Erdmann Ziegler hat in seinen beiden Romanen „Nichts Weißes“ und „Und jetzt du Orlando“ mit seinem fotografischen Erzählstil Furore gemacht. Mit der Handkamera fährt er mitten in ein Geschehen hinein, und der Leser wird dadurch in die Szene eingeschleust wie ein „embetteter“ Journalist. In seinen Erzählungen steigert er diese Erzählkunst, indem alles noch konziser und schroffer geschehen muss, weil ja nicht viel Raum und Zeit zum Erzählen da ist.

So kann man als Leser getrost davon ausgehen, dass jene paar Seiten, die eine der vierzehn Erzählung ausmachen, tatsächlich der Höhepunkt einer längeren Geschichte sind. Und umgekehrt wird eine vielleicht belanglose Sache zu einem Ereignis, wenn die Erzählung sich darum kümmert.

Thema kann alles sein, nicht umsonst schwärmt ein Protagonist aus „Video-Vampir“ davon, Kunst ohne Thema zu produzieren. (89) Zuvor hat er sich als Video-Pionier hauptsächlich mit dem Phänomen herumgeschlagen, ein Meister der Avantgarde zu sein. Selbst die Tierfilme, die er als Zoologe gedreht hat, sind so extravagant ausgefallen, dass sie höchstens als Werbe-Spot für einen Zoo genutzt werden konnten, so sinnlos sind darin die Elefanten im 8-mm-Format herumgerannt. Seine Freundin sagt zusammenfassend über den knapp sechzigjährigen Künstler, dass er ein Leben lang alles ausgesaugt habe, inklusive sie selbst. Und jetzt will er noch ein Spätstudium beginnen, vermutlich aus lauter Leere.

Selbst die kleinste Erzählung hat noch eine große Lebensphilosophie versteckt. So zieht sich die Mutter einer Ich-Erzählerin auf einen Ort vor den Toren Hamburgs zurück, den man nicht einmal googeln kann. Mutter hat zum Berufsende als Bibliothekarin die Diagnose Krebs bekommen, jetzt räumt sie ihr Leben auf, wie sie früher die zurückgebrachten Bücher aufgeräumt hat. Mutter hat Schulden und will nicht, dass ihre beiden Kinder das Erbe antreten, deshalb entsorgt sie alles in einem Container. Du willst doch nicht, dass meine Sachen auf einem Flohmarkt auftauchen? Die Erzählerin fasst alles in ein paar Besuchen zusammen, als der Container weg ist, ist auch Mutter gestorben. „Endstation“ ist ein sauberes Aufräumen, wie es nur Bibliothekarinnen gelingt.

Die Titelgebende Erzählung ist mit „Schottland und andere Erzählungen“ überschrieben. Das heißt, in der Erzählung selbst sind noch andere Erzählungen drin, freilich auf einem innigeren Niveau als die anderen Erzählungen, die im Buch um die Kernerzählung herum platziert sind. In Dundee trifft eine Tänzertruppe aufeinander, ein Stück ist international ausgeschrieben worden, und aus allen Teilen Europas tanzen jetzt die Helden an. In der Freizeit gibt es Ausflüge, Gespräche, Beziehungen. So wird ganz Europa wie ein Sternenkranz in der Flagge erzählt und natürlich taucht auch die Frage auf, was so ein Unding wie der Brexit soll. Der politische Plot der Erzählung ist klar: Wenn es gelingt, ein kompliziertes Stück in Dundee zu tanzen, dann wird es doch wohl auch in Brüssel möglich sein, etwas auszutanzen, statt darum herum zu hüpfen.

Die Leckerbissen sitzen immer zwischen den Zeilen und verstecken sich beinahe, während das Leseauge alles abscannt. So entsorgt etwa jemand seine Kindheit und Jugend, indem er die dabei verwendeten Kassetten auf einer Raststation in einen Mistkübel wirft. Und siehe, eine Ratte wartet schon darauf.

Ulf Erdmann Ziegler, Schottland und andere Erzählungen
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, 189 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-518-42826-9

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Ulf Erdmann Ziegler, Schottland und andere Erzählungen
Wikipedia: Ulf Erdmann Ziegler

Helmuth Schönauer, 18-08-2018