H. W. Valerian, Mourir pour Dantzig

valerian, mourir dantzigSoll ich heute überhaupt was erleben? - Diese Frage der Spätromantik gilt heute als schwer überholt, besteht der Sinn des Lebens doch darin, möglichst viel zu erleben. Im Alter freilich kommt immer öfter die Frage auf, was tue ich mit dem Erlebten?

Für H. W. Valerian stellt eine Busreise durch das gegenwärtige Polen so ein Erlebnis dar, das irgendwie unbeabsichtigt aufgetaucht ist wie so viele Aktivitäten, die jemand im Ruhestand vollbringt. Nun ist diese Polenreise also einmal geschehen und für den belesenen und historisch interessierten Autor geht es darum, damit etwas anzufangen. In erster Linie heißt das für seine Generation: Aufschreiben.

Denn was nicht niedergeschrieben wurde, ist nicht geschehen. (7)

Eine Busreise ist vielleicht die Urform der Erzählung, egal ob man von der Planungs-, Absolvierungs- oder Reflexionsphase spricht. Auf einer Busreise werden mehrere Menschen gebündelt und einem kollektiven Erlebnisstrom ausgesetzt, anschließend werden die Individuen wieder in ihre Privatsphären entlassen, worin jeder seine persönliche Geschichte zu erzählen hat.

„Mourir pour Dantzig“ ist ein Kernzitat, das den jeweiligen Zustand Europas zeigt. Die Beschwörungsformel entstand anlässlich des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen, und nicht wenige Europäer wehrten sich gegen bewaffnete Solidarität, denn wieso soll man beispielsweise als Franzose für Danzig sterben? Eine ähnliche Situation könnte sich heutzutage auftun, wenn plötzlich die baltischen Staaten überfallen würden. Lohnte es sich, für Narwa oder Tallin zu sterben? (13)

In dieser Gedankenlage erreicht die Gruppe Danzig, und der Autor schreibt den zweideutigen Satz „Dabei interessierte mich die Stadt brennend“. (9) An dieser kleinen Fügung lässt sich aufzeigen, was die Erzählung meint und wozu sie geschrieben ist. In einer historischen Analyse müsste so eine flotte Fügung getilgt werden. Wörtlich genommen spielt sie darauf an, dass wir aus den Wochenschauen Danzig nur brennend kennen. Und gerade diese Ungenauigkeit darf in der Erzählung Platz greifen, denn es soll ja erzählt werden, wie sich ein Siebzigjähriger das Wissen erworben hat, was in seinem Unterbewusstsein kocht und wie er ab und zu den Deckel seines Gehirns lüften muss, um etwas Zusammengedachtes herauszulassen.

So sind über die Reiseroute Danzig, Solidarnosc-Werft, Mehlsack oder Warschau persönliche Leseerlebnisse, Zitate des Vaters oder Prospekte der Reiseindustrie gelegt. In der Gegend von Mehlsack (34) ist der Vater des Erzählers verwundet worden und übrig bleibt das pure Überleben, worin politische Überlegungen keinen Platz haben.

So sind auch die Ortsnamen oft in der deutschen Verwendung verortet wie bei einem germanisierten Navi. Diese Unkorrektheit ist aber erlaubt, weil die Erinnerungen mit den deutschen Namen spielen und die polnische Realität kaum etwas mit diesen evozierten Storys zu tun hat.

Letztlich sind es immer ein paar Bücher, die uns eine Meinung über ein Land bilden lassen. Die Generation des Autors ist jedenfalls stark geprägt von Gräfin Dönhoff, die in ihren masurischen Reminiszenzen sehr wohl die Entwicklung der deutsch-polnischen Geschichte im Auge hat. Und überhaupt stellt sich bei der Begutachtung eines Landes die Frage, welchen offiziös gelenkten Standpunkt man einnimmt. Für Polen gibt es aktuell eine völlig andere Wahrnehmung in Brüssel oder Warschau als an der masurischen Seenplatte. An den Seen sind kaum Menschen, halb Polen ist ohne Tourismus, das Land ist halb so dicht besiedelt wie Deutschland. Das alles sieht man, wenn man aus dem Bus schaut.

Die Fakten und die richtige Aussprache der Ortsnamen lassen sich profund in Wikipedia nachschlagen, das Thema dieser Erzählung ist, welche Gedanken einem kommen, wenn man durch das gegoogelte Land fährt. So macht dem Erzähler immer noch Kopfzerbrechen, dass er anlässlich des Auschwitz-Besuches zuerst an einen riesigen Wallfahrtsort erinnert wird, ehe er sich zu tiefgreifenden Gedanken zwingt. Und kaum der Gedenkhaltung entkommen, fällt dem Helden schon wieder ein, dass er die jüdische Kultur über den jüdischen Witz kennengelernt hat. Die Tante Jolesch hat lebenslange Spuren gelegt, egal, ob man als Deutscher über den jüdischen Witz hat lachen dürfen oder nicht.

Je mehr man durch die Fläche eines Landes meditiert, umso ausgefranstere Gedanken kommen einem. Vielleicht ist Polen heute deshalb so leer, weil die echten Polen alle in England sitzen und das Land zu Hause einer ziemlich radikalen Partei mit dem lustigen Namen PIS überlassen haben.

H. W. Valerians Erzählung ist eine aufwühlende Geschichtsstunde, in der erzählt wird, was man sich alles durch lebenslanges Lesen über ein Land aneignen kann. Das Erzählen selbst wird schließlich zum Thema und bestätigt hintennach die These, wonach man es aufschreiben muss, wenn etwas geschehen soll. Der Autor wendet sich eindringlich an die Hinfälligkeit, die uns im Alter befällt, auch im Denken. Deshalb ist in dieser Erzählung nichts zu einer Lehrmeinung ausgeformt, sondern die Gedanken bleiben im Metermaß des menschlichen Erlebens. So könnte alles gewesen sein, wenn ich mich heute erinnere! Morgen kann es vielleicht anders sein, wenn ich inzwischen etwas darüber gelesen habe. – Eine sehr feine Diskussionsform in den harten Zeiten des Blogs!

H. W. Valerian, Mourir pour Dantzig. Erzählung
Berlin: edition inkpen 2019, 139 Seiten, 10,99 €, ISBN 978-3-750244-43-6

 

Weiterführende Links:
Homepage: H. W. Valerian
Wikipedia: H. W. Valerian

 

Helmuth Schönauer, 09-01-2020

Bibliographie

AutorIn

H. W. Valerian

Buchtitel

Mourir pour Dantzig

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2019

Verlag

edition inkpen

Seitenzahl

139

Preis in EUR

10,90

ISBN

978-3-750244-43-6

Kurzbiographie AutorIn

H. W. Valerian (= Pseudonym), geb. 1950, lebt in der Nähe von Innsbruck.