Eva Maria Gintsberg, Die Reise

eva maria gintsberg, die reiseAuf der wahrlich großen Lebensreise verlieren die Reisenden allmählich das Ziel, am Schluss wissen sie gar nicht mehr, dass sie auf Reisen sind.

Eva Maria Gintsberg stellt in ihrer Erzählung um einen jähen Aufbruch ein paar Protagonisten am Bahnsteig zusammen und lässt sie im Morgengrauen losfahren. Die Ich-Erzählerin, die das Reisen nicht gewöhnt ist, packt eines Tages einen Koffer und begibt sich in der Früh zum Bahnhof, sie sticht aus der Menge der Wartenden hervor, vielleicht, weil sie ein besonderes Ziel hat. Sie will nämlich in die Vergangenheit ihres Vaters reisen, der während des Krieges eine Affäre gehabt hat. Nach seinem Tod sind nur ein paar rätselhafte Buchstaben übriggeblieben, die darauf hindeuten, dass es irgendwo eine Geliebte mit dieser Signatur gibt.

Im Zug trifft die Erzählerin auf einen älteren Herrn, der ein Fläschchen gegen den Alltag dabei hat und auf dem Weg zu seiner Tochter ist, die nach einem Suizidversuch apathisch in einem Sanatorium liegt. Zwischendurch läuft ein rothaariges Mädchen durch die Garnitur und bläst ihren Kaugummi zu Blasen auf, die jenem Comic entsprechen, den sie herumreicht. Bald einmal stellt die Heldin fest:

Der eigentliche Grund meiner Reise ist mir abhandengekommen. (27)

In einer zweiten Erzählschicht ist vom „Familiensumpf“ die Rede, in den alle Protagonistinnen verstrickt sind. Das Mädchen Agnes hat den alkoholischen Vater an die Tante verloren, die eigentlich auf es aufpassen sollte. Sie verlässt eine depressive Mutter und hockt mit der Ersatzmutter im Zug, sie kennt sich nicht mehr aus, wer wofür zuständig ist.

Aus der Eigenperspektive schaut die depressive Rosa auf sich selbst hinunter, der Herrgott hat sie verlassen und alles ist schief gegangen. In einem eruptiven Anfall liegt sie unter einem Apfelbaum und reißt Grasbüschel aus. Ihre Tochter ist für immer weggefahren.

Am hinteren Ende der Erzählung hockt die stille Frieda ihren Lebensabend herunter. Ein bisschen Erinnerung an die Liebschaft im Krieg gibt es noch und dann das Beobachten eines älteren Herrn, der wohltuend verlässlich seine kranke Tochter besucht.

Die „Reise“ ist kunstvoll aus drei Strängen zusammengeflochten, an der Oberfläche sind es Reisebewegungen wie sie rund um eine Zugfahrt unscheinbar abgewickelt werden, etwas tiefer liegen die familiären Verstrickungen, aus denen die Heldinnen selbst mit größtem Bemühen nicht hinausfinden, und als dritte Ebene könnte man das Reisen in der Sprache selbst auffassen. Vier Kapitel sind nämlich nicht nur vier Heldinnen zugeordnet, sondern auch vier Erzählmethoden. Das Unausgesprochene flüstert. (3) / Wenn Bäume sprechen. (29) / Das Schweigen legt eine Pause ein. (55) / Die Erinnerung (65).

Die Geschichten liegen selten auf einer Ebene, sodass man sie mit einer Handbewegung zusammenwischen könnte, sondern sie sind schroff in einander verkeilt, verschwinden im Unterbewusstsein und tauchen in Rhizom-Manier an völlig anderer Stelle wieder auf. Wer einmal einen Erinnerungsprozess angestoßen hat, muss damit rechnen, dass dieser sich verselbständigt. Dabei überlappen sich die biographischen Abschnitte, mitten in die Kindheit kann eine Altersweisheit eindringen, im Arbeitssaft stehend bricht plötzlich der Boden weg, und alte Zeichen lassen späte Triebe ausbrechen und geraten in den Glanz einer neuen Bedeutung. Alle sind heftiger unterwegs, als sie es selbst ahnen.

Eva Maria Gintsbers Reise ist eine subtile Auseinandersetzung mit den Schatten einer Familiengeschichte. Darin werden die Verwundungen neu angeritzt, damit sie durch Erzählen neu verbunden werden können. Vielleicht ermöglicht erst dieses Aufsuchen versunkener Erwartungen eine Heilung. Die Erzählung nimmt letztlich viel Druck aus den angestauten Zerwürfnissen der Heldinnen. Wie bei großen Reisen üblich, ist sie nie zu Ende.

Eva Maria Gintsberg, Die Reise. Erzählung
Scheffau: edition himmel 2020, 70 Seiten 16,00 €, ISBN 978-3-903667-00-6

 

Weiterführende Links:
Edition Himmel: Eva Maria Gintsberg, Die Reise
Homepage: Eva Maria Gintsberg

 

Helmuth Schönauer, 28-05-2020

Bibliographie

AutorIn

Eva Maria Gintsberg

Buchtitel

Die Reise

Erscheinungsort

Scheffau

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Edition Himmel

Seitenzahl

70

Preis in EUR

16,00

ISBN

978-3-903667-00-6

Kurzbiographie AutorIn

Eva Maria Gintsberg, geb. 1966 in St. Johann/T, lebt in Scheffau.