Gertrude Maria Grossegger, Wendel

gertrude maria grossegger, wendelWas ein eigentümlicher Charakter ist, braucht eine eigene Sprache dafür, und auch dann ist ihm nur bedingt mit Sätzen beizukommen. In der Romantik hat man solche faszinierenden Menschen oft eine schöne Seele genannt.

Gertrude Maria Grossegger nennt ihren Helden amtlich Wendelin, aber als Figur mit spezieller Identität wird er zum Wendel. Dadurch ist er einmalig wie der ganze Roman, den er bestreicht. In nicht ganz dreißig Episoden zeigt sich Wendel dabei als hintersinniger, geradliniger, ungebrochener Mensch, der sich dadurch von der Umwelt zu schützen weiß, dass er sich abduckt, zusammenrollt und herunterfährt. Am idealsten geschieht diese Maßnahme, indem man in einen Sack kriecht.

Gleich zu Beginn trifft Wendel auf seinen Freund Theo, der das gleiche Schicksal mit dem Namen hat, amtlich heißt er Theodor, aber für den Lebensgebrauch ist er der Theo. Theo bringt Wendel einen großen Plastiksack mit und verschwindet. Wendel kriecht in diesen Sack hinein und gerät in einen anderen Zustand, der landläufig Bewusstlosigkeit genannt wird.

In Erinnerungsschleifen kommen einzelne Begebenheiten aus Wendels Leben zum Vorschein, teilweise memoriert es Wendel vor sich hin, teilweise sind es Stimmen und Zuträger, die sich von außen über Wendel äußern. Er ist jedenfalls einer der Letzten, die auf einen Festnetzanschluss bestehen. Auch sonst ist seine Kommunikation reduziert und arbeitet viel mit Symbolen und Anspielungen. Wendel ist auf einem Bauernhof aufgewachsen und hat die Tiere als seine eigentlichen Freunde entdeckt. Nach seinem Studium in einer Stadt ist er wieder auf das Land zurückgekehrt und arbeitet an seltsamen landwirtschaftlichen Projekten. Diese Projekte müssen umständlich beantragt werden, unterliegen einer gewissen Geheimnistuerei und sollen vor den Menschen geschützt werden. Wendel verschwindet immer wieder in Rückzugsräumen, um etwas Projekthaftes darin zu organisieren und zu zelebrieren.

Wendel wird den Roman hindurch mit einer empathischen Sprache in kurzen Andeutungen umrissen. Eine gutmeinende Psychologin könnte vielleicht mit diesem Stil Positives bewirken, wenn sie so eine Analyse erstellte.

Er ist ein Psychologiker, einer, der in die Tiefe geht. (18)
Wendel ist kein Verwöhnter. […] Er ist ein Arbeiter, ein konsequenter. (46)
Der Wendel, und nur der Wendel, weiß, woran er im Verborgenen forscht. (98)

Der Schluss bleibt offen, wahrscheinlich hockt der Held noch immer in seinem Sack und ist bewusstlos. Aber immerhin in der Vorstellung hebt er ein Glas und trinkt auf das eigene Leben.

Ehrensache, dass einem der Held mit jeder Seite sympathischer wird. Dabei steckt ein straffes Leben dahinter, das vielleicht aus pausenlosem Schicksal besteht. Die Stringenz, mit der Wendel heruntererzählt und dabei ausgebaut wird, erinnert im Entfernten an diesen Büchnerschen Grenadier Woyzeck, der ausweglos seine Mission abwickelt und den sie alle von außen irgendwie zu beschreiben versuchen. Solche Wendel-Helden lassen sich nicht endgültig beschreiben, aber was so an Sätzen um sie herum aufgebaut wird, ist eindeutig Kunst. Eine Art spezieller Psychologie mit gutem Analyse-Design. - Sehr sympathisch jedenfalls.

Gertrude Maria Grossegger, Wendel. Roman
Graz: Edition Keiper 2018, 132 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-903144-67-5

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Gertrude Maria Grossegger, Wendel
Literaturhaus Graz: Gertrude Maria Grossegger

 

Helmuth Schönauer, 05-12-2018

Bibliographie

AutorIn

Gertrude Maria Grossegger

Buchtitel

Wendel

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

132

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-903144-67-5

Kurzbiographie AutorIn

Gertrude Maria Grossegger, geb. 1957, lebt in der Oststeiermark.