Bernhard Strobel, Nach den Gespenstern

bernhard strobel, nach den gespensternWie bei Huhn und Ei ist auch die Urheberschaft der Gespenster diskutierbar. Suchen nun Gespenster die verschreckte Seele auf und setzen sich im Schreckzentrum nieder, oder treten zuerst Hirngespinste auf, die dann als abgeheilte Gespenster in die verschreckte Umwelt entlassen werden?

Bernhard Strobel geht in seinen dreizehn Erzählungen diesem Wechselspiel nach. Dabei wird man als Leser miteinbezogen in dieses Wirrwarr aus Gewissheiten, seelischen Brüchen, Familientragödien oder einfach dem Auseinanderbrechen jeglicher Selbstsicherheit.

Schon im ersten Erzählansatz „Über Geister“ (5) eskaliert eine Beobachtung. Ein Ich-Erzähler sieht eine Person im Nachbargarten über den Zaun klettern. Völlig verunsichert ruft er die Polizei, die auch in Fällen der Halluzination und Fehleinschätzung eine verlässliche Konstante ist. Die Polizei hat bereits ein Bild vom Unbekannten, er soll ein gesuchter Verbrecher sein, dem man nichts nachweisen kann, außer dass er sein Haus meist verstohlen und über den Zaun kletternd betritt.

Der Erzähler, als Witwer gerade in seine einsame Wohnung eingezogen, verliert jeglichen Zusammenhang zu Menschen seiner Umgebung, es macht ihm Kummer, dass er scheinbar normale Situationen nicht mehr ertragen und einordnen kann. Bei nächster Gelegenheit trifft er den Nachbarn, der ihm erklärt, dass er im Keller leben muss, weil oben und im ersten Stock die Geister wohnen. Als der Nachbar gleich darauf tot ist, schließt die Polizei den Fall ab, den Erzähler beruhigt das freilich nicht, denn die Geister sind ja immer noch da.

„Das Fernglas“ (28) schließt von der Motivlage her nahtlos an die erste Geschichte an. Diesmal wird die Störung der Beobachtung aus der Sicht einer Ich-Erzählerin dargelegt. Es handelt sich offensichtlich um Mann und Frau, die schon lange auf ihrem Anwesen ihr Revier gegeneinander markiert haben. Er sitzt meist am Balkon und schaut durchs Fernglas, weil er in der Nähe nichts mehr sieht, sie überlebt die Vormittage im Bademantel auf der Terrasse, indem sie nichts mit dem Mann redet. Dieser hat freilich heute das Problem, dass er auf der gegenüberliegenden Straßenseite Gestalten sieht, aber kaum zoomt er sie durchs Fernglas heran, sind sie verschwunden. Die Frau soll überprüfen, ob bei ihr ebenfalls die Gestalten verschwinden. Das tun sie nicht, weil sie ja mit freiem Auge erkennbar sind, vielleicht sind es Mann und Frau, ähnlich wie die beiden. Aus dem Betrachtungsdesaster ergibt sich schließlich die Frage, warum man wissen soll, wer jemand ist, den man in der Entfernung sieht, wenn der das Grundstück ohnehin nicht betreten will.

Die meisten Erzählungen sind aus der Ich-Perspektive gestaltet, weil sich damit die subjektive Wahrnehmungsstörung am klarsten formulieren lässt. Das Ich nämlich irrt, sobald es auf ein Objekt oder gar anderes Subjekt trifft. Trotz scheinbar klarer Rollenzuweisung ergeben sich fatale Irrtümer.

Am Friedhof treffen zwei Männer aufeinander, die ihre toten Frauen besuchen. Da es nur eine Sitzgelegenheit zum Langtrauern gibt, übertreffen sich die beiden durch immer noch frühere Besuchstermine, um den Sitzplatz für sich zu ergattern. Später sind sie so vernünftig, dass einer immer im „Café Post Mortem“ (67) wartet, bis der andere fertig ist. Der Beziehung liegt freilich eine Wahrnehmungsstörung zugrunde: Als das Trauergegenstück längere Zeit ausbleibt, wird der Erzähler darauf hingewiesen, dass er am Grab stets in einen imaginären Disput verwickelt ist und die Leute mit seinem lauten Trauerdiskurs stört.

Eine formidable Wahrnehmungsstörung tritt am Balkon eines Unfallkrankenhauses auf, als sich eine Frau so ans Geländer lehnt, als ob sie sich hinunterstürzen will. Der Held tritt vorsichtig an sie heran und schweigt, bis sich alles geklärt hat. Die Frau wollte nur einmal in Ruhe rauchen und bedankt sich für das Verhalten; still zu sein ist in solchen Nachtstunden das Privileg eines Gentlemans.

Jemand trifft auf einen Doppelgänger, aber niemand glaubt ihm, im Altersheim heißt es, Hauptsache es schmeckt, aber wer ist die Hauptsache?

Die Titelgeschichte „Nach den Gespenstern“ (60) fußt auf dem notwendigen Dauermissverständnis, das es braucht, wenn ein Paar länger zusammenleben will. Heute fährt das Paar ins Theater und bedauert es, die Straßenbahn genommen zu haben, gereizt schaut es das Stück von den Gespenstern, das nicht viel hergibt. Zuhause entbrennt sofort ein Streit, warum man sich so ein Stück ansieht. Da reißt die Frau einen Textband aus dem Regal und nennt einen logischen Grund: Weil wir das Stück zuhause im Regal stehen haben! Beide können nicht sagen, ob es im Stück Gespenster gibt oder diese nur im Titel vorkommen.

Bernhard Strobel erzählt das Grauen, das entsteht, wenn der Alltag zu lange über dem Beziehungsgelände liegt. Die Störungen des Individuums kriechen aus den Sinnesorganen heraus und verändern die Welt. Beziehungen, Pläne und Rituale erweisen sich dabei als hohle Formen, die selbst mit tiefsten Worten nicht ausgegossen werden können. Die Irritation kommt aus uns und zieht in die Welt hinaus, nicht umgekehrt. Das hat einst der frühe Thomas Bernhard in seiner „Verstörung“ anhand eines verrückten Fürsten erzählt. Bernhard Strobel macht aus uns Lesern Fürsten der Verstörung.

Bernhard Strobel, Nach den Gespenstern. Erzählungen
Graz: Droschl Verlag 2021, 174 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-99059-086-7

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Bernhard Strobel, Nach den Gespenstern
Wikipedia: Bernhard Strobel

 

Helmuth Schönauer, 28-12-2021

Bibliographie

AutorIn

Bernhard Strobel

Buchtitel

Nach den Gespenstern. Erzählungen

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

174

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-99059-086-7

Kurzbiographie AutorIn

Bernhard Strobel, geb. 1982 in Wien, lebt in Neusiedl am See.