Walter Benn Michaels, Der Trubel um Diversität

walter benn michaels, der trubel um diversität.jpg„Falsch an der Identitätspolitik ist, mit anderen Worten, dass sie nur solche Ungerechtigkeiten zur Kenntnis nimmt, die durch Diskriminierung (Rassismus, Sexismus, Homophobie) hervorgebracht werden. Die Ungleichheiten, die jedem von uns in jedem Augenblick dadurch entsteht, dass Arbeiter weniger bezahlt bekommen als den Wert dessen, was sie produzieren, werden außer Acht gelassen oder, schlimmer, als normal erachtet.“ (S. 14)

Walter Benn Michaels stellt in seinem kritischen Sachbuch die Zunahme der gesellschaftlichen Diskussion um Diversität in den Mittelpunkt, die sich gegen Rassismus, Sexismus und Transphobie richtet. Diese, von den USA ausgehende Bewegung, stößt vor allem auch in Ländern auf zunehmendes Interesse, in denen von der zunehmenden Kluft zwischen Armen und Reichen abgelenkt werden soll.

Anhand zahlreicher Beispiele und Fragestellungen wird gezeigt, wie z.B. in den USA Rassismus und Antirassimus, wenn es um die Klassenfrage zwischen Arm und Reich geht, dasselbe Ziel erreichen: arme und reiche Weiße gegen arme und reiche Schwarze zu vereinen. In Wirklichkeit stellt sich der Unterschied zwischen reichen Weißen und armen Weißen als viel grundlegender heraus als zwischen armen Weißen und armen Schwarzen, sowohl was die Schulbildung betrifft als auch das Einkommen.

Während es der Identitätspolitik darum geht, dass alle gesellschaftlichen Gruppen in der gesellschaftlichen Hierarchie gleich vertreten sind, also niemand wegen seiner Hautfarbe, sexuellen Ausrichtung oder aufgrund des Geschlechts diskriminiert wird, spielen die Armutsverhältnisse innerhalb der Gesellschaft keine entscheidende Rolle. Aus dieser Sicht wird nur gesellschaftliche Diskriminierung als Problem wahrgenommen, nicht jedoch die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital oder anders gesagt, dass die Arbeiter weniger bezahlt bekommen, als den Wert, den sie produzieren.

Diversität ist, wie die Gicht, ein Problem der Reichen. Und zugleich die Lösung dieses Problems, die darum den reichen Leuten auf der Rechten ebenso attraktiv erscheint (oder erscheinen sollte) wie denen auf der Linken. (S. 137)

Wie sehr gerade große Unternehmungen bereits sind Diversität und die Ansichten der Identitätspolitik zu unterstützen, zeigt sich an zahlreichen finanziellen Zuwendungen für Diversitätstrainings und die Umsetzung von Quoten, wie z.B. das groß angekündigte Ziel des Investmentunternehmens Goldman Sachs, dass die Belegschaft des Unternehmens Zukunft einen Anteil von 50 % Frauen, 14 % Hispanos und 11 % Schwarzen aufweisen soll. Aus der Sicht der Unternehmen verursachen Ziele dieser Kategorie keine Mehrkosten, während der sich der grundsätzliche Ausgleich zwischen Reich und Arm auf deren Gewinne beeinträchtigen würde.

Walter Benn Michaels gelingt es in seiner kritischen Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion um Diversität, deren größtes Problem und die davon ausgehende Gefahr aufzuzeigen, dass die wahren Probleme der zunehmenden Umverteilung zwischen Reich und Arm dabei überdeckt, wenn nicht sogar unsichtbar gemacht werden. Gleichzeitig wird aufgezeigt, dass es vor allem im Interesse des reichen Teils der Bevölkerung liegt, die Gesellschaft in Identitäten aufzuteilen und für deren Rechte zu kämpfen, wenn damit die Solidarität der Mehrheit der armen Bevölkerung verhindert werden kann.

Ein überaus informatives und erhellendes Sachbuch, das wichtige und interessante Fragen zu gesellschaftlichen Diskussionen der Gegenwart behandelt und analysiert und aufzeigt, weshalb mit Fragen der Identität gezielt von Fragen der Klassenunterschiede abgelenkt werden kann, die sich zunehmend zum Problem in den westlichen Gesellschaften entwickeln.

Walter Benn Michaels, Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren, übers. v. Christoph Hesse [Orig. Titel: The Trouble With Diversity]
Berlin: Edition Tiamat 2021, 296 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-89320-279-9

 

Weiterführende Links:
Edition Tiamat: Walter Benn Michaels, Der Trubel um Diversität
Wikipedia: Walter Benn Michaels

 

Andreas Markt-Huter, 11-07-2022

Bibliographie

AutorIn

Walter Benn Michaels

Buchtitel

Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren

Originaltitel

The Trouble With Diversity

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Tiamat

Übersetzung

Christoph Hesse

Seitenzahl

296

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-89320-279-9

Kurzbiographie AutorIn

Walter Benn Michaels ist Professor für englische und amerikanische Literatur an der Universität von Illinois in Chicago. Er hat u.a. die Bücher »Our America: Nativism, Modernism and Pluralism« (1995), »The Shape of the Signifier: 1967 to the End of History« (2004) und »The Beauty of a Social Problem: Photography, Autonomy, Economy« (2015) veröffentlicht.