Aleš Šteger, Logbuch der Gegenwart

Eine literarische Antwort auf die Welt der politischen Selfies und Clouds ist die Echtzeitliteratur, die im Stile eines journalistischen Selbstversuchs an sogenannten Hotspots der Weltgeschichte abläuft oder durch Inszenierung Hotspots schafft.

Aleš Šteger ist in der Kernzone seiner selbst Poet, allerdings ist er wie ein Kriegsberichterstatter ununterbrochen unterwegs, um eine Art Logbuch der Gegenwart zu inszenieren. Wenn unsereins sagt, dass die heutige Zeit im Bild der Roman von morgen ist, so sagt der Autor, dass dieser Roman auch dort spielen muss, wo die Nachricht über ihn entstanden ist.

In der aktuellen Sequenz „Taumeln“, was sowohl ein Herumtaumeln zwischen den Schauplätzen als auch ein Taumeln in den dazu passenden Gefühlen bedeutet, setzt sich der Autor fürs erste einen Tag lang in der Vorweihnachtszeit in ein Schaufenster und konsumiert als angestarrtes Konsumprodukt die Wirklichkeit. Das Weltthema Konsum kann an jedem x-beliebigen Punkt der Welt aufbereitet werden, es wird aber noch weltbewegender, wenn die Aktion vor der eigenen Nase in Ljubljana stattfindet.

Im Projekt Fukushima ist über das Weltereignis Tsunami mit Kernschmelze schon vieles gesagt, manche Regierungen haben daraufhin dem Atomprogramm abgeschworen, die anliegende Regierung hat wieder alles hochgefahren und spielt ein Business as usual herunter.

Vor Ort setzt sich der Autor in die dichtest anliegende Bibliothek des Desasters und versucht zu beobachten, wie normal die Normalität einer Bibliothek ausfallen kann, wenn sie dicht an der Strahlengrenze liegt.

Wo kann man ein Desaster eines ganzen Staates besser beschreiben als an den Orten seiner Insignien und seiner angeblichen Macht? Die Macht Mexikos liegt wie bei jeder Anarchie längst in der Fläche, wenn nicht gar Peripherie. Das Massaker an den Studenten, die verschwunden gemacht, angeblich verbrannt und deren DNA in Innsbruck untersucht worden sind, muss folgerichtig in der Hauptstadt beschrieben werden unter den Fahnen und Freiheitsstatuen. In einem aufgelösten Staat laufen die Fäden der Anarchie in der Hauptstadt als Karikatur zusammen.

Ähnliches gilt für Belgrad, dem Sitz eines ehemaligen Staates, der sich zwar aufgelöst hat, aber jedem von ihm davongelaufenen Nachfolgestaat ein Stück Sprengstoff als Geschichte mitgegeben hat. In Belgrad laufen die verschiedenen Schichten der jugoslawischen Konglomerate zusammen, wie vielleicht in Wien Kaiser, Hitler und Kanzler an manchen Tagen zumindest als Bild ineinander übergehen. Vor dem Hauptbahnhof der ehemaligen Hauptstadt hat sich jetzt die Weltinsel Lampedusa ein zweites Mal gebildet. Diese Insel ist aus Asphalt statt aus Lava, aber ihre Menschen, die aus allen Erdteilen zusammengeflohen sind, tragen den Originalstaub von Lampedusa.

Aleš Šteger setzt mit diesen erzählten Inszenierungen oder inszenierten Erzählungen neue Maßstäbe der Literatur, indem sich trotz der Schroffheit der Themen immer wieder Raststätten der Poesie herausbilden. Die Fotos tun dann noch das Übrige, dass man sich von diesem Geschichtsbuch nicht mehr trennen kann.

Aleš Šteger, Logbuch der Gegenwart. Taumeln, a. d. Slowen. von Matthias Göritz, mit zahlr. Fotos, Vorwort von Peter Nadas
Innsbruck: Haymon Verlag 2016, 168 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-7099-7233-5

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Aleš Šteger, Logbuch der Gegenwart
Wikipedia: Aleš Šteger

 

Helmuth Schönauer, 27-09-2016

Bibliographie

AutorIn

Aleš Šteger

Buchtitel

Logbuch der Gegenwart

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Matthias Göritz

Seitenzahl

168

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-7233-5

Kurzbiographie AutorIn

Aleš Šteger, geb. 1973 in Ptuj, lebt in Ljublana.