Alina Simone, Ich wollte Einhörner

In den Hitparaden und Charts gibt es nur Sieger, was aber machen die anderen, die nicht von der Geschmackstombola nach oben gespült werden?

Die Sängerin Alina Simone formuliert es in ihren „Memoiren-Essays“ ziemlich drastisch, den größten Erfolg habe sie mit dem Covern einer unbekannten russischen Untergrundsängerin gehabt. Sonst interessiere sich niemand für sie und wenn, dann höchstens wegen der Geburtsstadt Charkow, wenn diese wieder einmal bombardiert wird.

Diese Charkow-Neugierde wird dann auch gleich in der ersten Geschichte befriedigt. Die Ich-Erzählerin bekommt unerwartet eine E-Mail aus dem Untergrund Charkows, ein Redakteur der seltsamen geschichtshybriden Zeitung „Komosol wahr“ möchte Näheres von der entschwundenen Musikerin wissen, die hier geboren ist.

Tatsächlich fährt die Helden gegen den Willen ihrer Eltern in den Osten der Ukraine, immerhin ist ihr Vater vom KGB verfolgt worden und musste als Intellektueller im Zoo arbeiten. Aus dieser biographischen Konstellation stammt vielleicht auch die ungestillte Sehnsucht nach Einhörnern. Charkow erweist sich als gar nichts, es ist nicht das, was es aus Kindheitserinnerungen hätte sein können, es hängt politisch in der Luft, und wenn man die postsowjetischen Viertel durchstreift, ahnt man schon seine Zerstörung.

Im Essay über „Finsternisabwehrende Postbotenkriegsgötter“ läuft alles auf Übersetzungsfehler hinaus, die unter anderem jede Integration von Flüchtlingen unmöglich machen.

Eine Flipchart-Skizze (89) für ein gelungenes Leben ist der Kern der Erzählung „Hope Street und am Ende“, darin ist alles aufgemalt, was man für eine erfolgreiche Musikerkarriere machen muss, netzwerken, arschkriechen und wie die Dinge alle heißen. Am Schluss kommt die Büchse der Pandora, die musst du aufmachen und alles ist hin.

In den insgesamt zehn biographischen Essays geht es dann noch um den Abschluss der Kunstakademie, eine Kunsttaufe in St. Petersburg, wo in einem Taufbecken Musik gemacht wird, oder um den Britney-Kult vorgeblich gelungenen Lebens.
Sibirien erweist sich bei einer musikalischen Erkundung als die ideale Kunstfläche, denn hier herrschen Zeit und Platz im Überfluss. Und auch die heimischen Künstlerinnen sind dort nicht ohne, sie hocken in einem Hotelzimmer und nehmen die Heldin gleich wärmstens auf.

„Zieh die Hose aus und trink mit!“ (250)

Das Nonplusultra einer skurrilen Kunsttheorie liefern die sogenannten Skopzen ab, die ihre Sexualorgane abmontieren, damit sie vom Sex nicht abgelenkt werden. Die Selbstkastration gilt dabei als die Vollendung jeglicher Kunst. Ein abgeschwächter Zweig davon soll in Kanada leben.

Alina Simone verwendet die Musikbranche als eine Maschine, mit der Zeit und Raum überwunden werden kann. Wie in jeder Kunst ist vor allem viel Kult und Getue gefragt, beides vernichtet letztlich die Person. Die Geschichten gehen auf die Erwartungen des Publikums nur zum Schein ein, in Wirklichkeit erzählen sie von einer höchst sensiblen Musikerseele, die sich mit Selbstironie durch die Riffs und Charts rettet.

Alina Simone, Ich wollte Einhörner. A. d. Amerikan. von Vandis Buhr [Orig.: You must go and win, New York 2011]
München: Graf Verlag 2015, 319 Seiten, 18,50 €, ISBN 978-3-86220-043-6

 

Weiterführende Links:
Graf Verlag Ullstein: Alina Simone, Ich wollte Einhörner
Wikipedia: Alina Simone

 

Helmuth Schönauer, 13-11-2016

Bibliographie

AutorIn

Alina Simone

Buchtitel

Ich wollte Einhörner

Originaltitel

You must go and win

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Graf Verlag

Übersetzung

Vandis Buhr

Seitenzahl

319

Preis in EUR

18,50

ISBN

978-3-86220-043-6

Kurzbiographie AutorIn

Alina Simone, geb. 1975 in Charkow, lebt in Brooklyn.