Andrzej Stasiuk, Der Osten

Der Osten ist nicht nur eine Himmelsrichtung sondern auch ein Lebensgefühl, eine Farbe des Unterbewusstseins oder eine permanente Wetterlage.

Andrzej Stasiuk, der Fachmann für Peripherie, devastierte Ländereien und aufgelassene Soziotope, kümmert sich in seinem historisch-poetischen Roman um jenen vagen Osten, der durch Geschichten plötzlich erzähl- und begreifbar wird. Der Ich-Erzähler erarbeitet sich den Osten in drei „Stoßrichtungen“, wie das Wehrmachtswort für den Nazikrieg im Osten heißt.

Einmal ist es die Zeit der Okkupation und Verwüstung Polens durch die Nazis. Hier erzählt die Großmutter von der Überlebenskunst und dem desaströsen Ost-Mythos der Deutschen. Für Großmutter ist der Osten vor allem ein deutsches Projekt. „Der Osten ist auch ein Grab.“ (86) Und alles was sie braucht, bewahrt sie im Gedächtnis. (45)

In einer zweiten Erzählschiene kommt der Osten nach Polen, zuerst als Befreiung, später als Okkupation. Im Land merkt man nur die Ausläufer des Ostens, hinter jedem russischen Soldaten steckt ein Reservoir an Ressourcen, das sich bis Wladiwostok erstreckt.

Auf der dritten Ost-Ebene macht sich schließlich der Erzähler selbst auf, in den Osten vorzudringen mit einem vagen Konzept.

Man weiß nicht so recht, wozu man diese Reisen macht. (188)

Diese Reisen sind gekennzeichnet von Abstrusität, gleich zu Beginn landet die russische Maschine irgendwo in der Tundra statt am Baikalsee, niemand hat eine Erklärung dafür und so gibt sich auch der Erzähler zufrieden mit der Formel, Hauptsache Osten.

Meist sind es verlassene Siedlungen oder aufgelassene Grenzstationen, die den Reisen ein paar notdürftige Koordinaten geben, denn in der Hauptsache geht es um „die berühmte Langeweile des Raums“ (120) und man hat ständig das Gefühl, „als würde die Geographie dich verarschen“. (155)

In der Mongolei schließlich verliert sich jegliches Transportmittel und die Reisenden tapsen „auf der Straße wie auf einer Klinge, die die Element trennt.“ (295) Nach dieser unbegreiflichen Weite des Ostens kommen einem chinesische Arbeiter völlig Sciencefiction-mäßig vor, denn sie schlafen so schnell wie möglich, weil sie am nächsten Tag früh aufstehen müssen. (230) Quer durch die Wüste ist ein Zaun gespannt, der vielleicht die chinesische Mauer an Länge übertrifft, denn wie bei untergegangenen Reichen üblich kann niemand mehr sagen, wie ausgedehnt der Osten in der Sowjetunion gewesen ist.

Andrzej Stasiuk erzählt sich rasant durch das historische und geographische Gelände mit Bewegungen, wie sie vielleicht ein Koch beim Gemüseschneiden macht, rastlos werden die Erinnerungssegmente geschnipselt, ein Tankstelle in der Wüste erinnert daran, dass der Erzähler wie alle bodenfesten Menschen die Kindheit im Parterre verbracht hat, die Jahreszahlen erfolgen immer doppelt, 1967 oder 1968, was bewirkt, dass das Vage der Erinnerung doch sehr genau wird.

Erzählt wird in assoziativer Verschlungenheit, es gibt kaum Gliederungselemente außer Absätze, manchmal kommt ein Halbsatz in etwas größerer Schrift daher, das ersetzt dann die Kapiteleinteilung. Und es wird erzählt und erzählt und es geht kein Ende her, weil das Thema der Osten ist!

Andrzej Stasiuk, Der Osten. Roman, a. d. Poln. von Renate Schmidgall. [Orig. Titel: Wschód, Wolowiec 2015]
Berlin: Suhrkamp 2016, 295 Seiten, 23,60 €, ISBN 978-3-518-42535-0

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Andrzej Stasiuk, Der Osten
Wikipedia: Andrzej Stasiuk

 

Helmuth Schönauer, 08-03-2016

Bibliographie

AutorIn

Andrzej Stasiuk

Buchtitel

Der Osten

Originaltitel

Wschód, Wolowiec

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Renate Schmidgall

Seitenzahl

295

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-518-42535-0

Kurzbiographie AutorIn

Andrzej Stasiuk, geb. 1960 in Warschau, lebt in den Beskiden.